Kapitel 10

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Je länger ich hier stand, die Augen geschlossen hatte und nichts tun konnte, desto schneller und heftiger atmete ich. Auch mein Herz schien so schnell zu rasen, wie es wirklich nur ein Falke im Sturzflug konnte.
Wenn ich Liam verlor, war alles aus. Alles, was ich noch hatte, war weg.
Und ich konnte nichts tun. Das war es, was mich so beunruhigte. Nein, nicht nur das. Dieser Mann war hier, um meinen Onkel umzubringen!
"Marco, du musst das...", hörte ich die von Angst erfüllte Stimme meines Onkels und ich konnte einfach nicht anders. Ich öffnete meine Augen schlagartig wieder.
Dieser gewisse Marco stand immer noch vor Liam, die Pistole schussbereit auf die Brust meines Onkels gerichtet. Er schwitzte.
"Oh doch! Du hast mir alles genommen, Liam. Nur wegen diesem Wunsch, jungen Wandlern zu helfen, in der Welt klarzukommen. Hast du dir jemals Gedanken darüber gemacht, was aus mir geworden ist, als du mich damals im Stich gelassen hast?" Marco rief es förmlich und mit fester Stimme, aber die Angst in seinen Worten war nicht zu überhören.
"Ich.." Liam seufzte. "Es gibt einfach wichtigere Dinge, als unsere Band."
"Nichts ist wichtiger, als das Rudel!", brüllte Marco und legte die Finger an einen Hebel, der vermutlich alles beenden würde.
"Du hast keine Ahnung, wie sehr du mich ins Verderben gestürzt hast. Ich habe alles verloren. Aber eines bleibt, und das ist mein echtes Rudel! Meine Familie, die mich nie im Stich lassen würde!"
Und dann passierte etwas, mit dem ich nie und nimmer gerechnet hätte.
Marco ließ die Pistole fallen, starrte Liam einen Moment hasserfüllt an und verwandelte sich dann in einen der größten Wölfe, die ich je gesehen hatte. Sein Fell war rabenschwarz und man sah deutlich, dass ihn der Hunger quälte. Aber angsteinflößend und furchterregend sah er trotzdem aus.
"Du hast keine Chance, Liam. Du hast mich leiden lassen, nun lasse ich dich leiden." Marco tappte mit hochgezogenen Lefzen und gefletschten Zähnen auf Liam zu, der sich reflexartig auf seinen Bürostuhl rettete.
"Marco, du weißt nicht, was du..."
"Ich weiß sehr wohl, was ich hier tue!", unterbrach der riesige Timberwolf ihn. Mittlerweile war er in der Mitte des Raums angekommen und ich konnte nur hoffen, dass er nicht zu einem Teil Katze war. Dann würde er großen Wert auf den gemeinen Überraschungsangriff legen, was ziemlich gefährlich werden konnte.
"Und wenn wir nochmal von Null anfangen? Du bist sauer, das verstehe ich. Aber das bist doch nicht du!" Mein Onkel warf mir einen kurzen Blick zu, den ich nicht deuten konnte und ich erwiderte ihn beunruhigt.
Wenn Liam es überleben sollte, musste ich mir ganz schnell etwas einfallen lassen. Nur was?

Und dann griff Marco an. Seine Krallen durchbohrten den Stuhl, auf dem Liam gerade noch gestanden hatte. Zum Glück war er rechtzeitig auf ein vergleichsweise niedriges Regal gesprungen, was jetzt aber langsam zu kippen begann.
"Verwandel dich!", rief ich ihm zu und fing einen vernichtenden Blick von Marco auf.
"Fresse, Mädchen!" Er wandte sich wieder seinem Feind zu und knurrte wütend. "Keine Spielchen! Bleib, wo du bist! Ich bring dich so oder so um!"
Ich schluckte, verspürte den unaufhaltsamen Drang, etwas tun zu müssen. Aber mir blieb nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass Liam es auch ohne meine Hilfe schaffte, zu überleben.
Aber mein Onkel murmelte nur: "Du bist verrückt." und schüttelte seufztend den Kopf. "Wir waren mal Freunde, weißt du noch? Aber mir war immer klar, dass du das Verzeihen nicht gut beherrschst und ehrlichgesagt habe ich auch nicht mehr vor, mich bei dir zu entschuldigen. Tu, was auch immer du für nötig hälst, aber glaub ja nicht, dass du es über dich bringst, mich zu töten. Dein Herz ist noch keine Pampe."
Marco grinste ihn an. Jedenfalls soweit man das erkennen konnte. Aber dann verfinsterte sich seine Miene wieder. "Du irrst dich. In allem." Dann rannte er auf das schiefe Regal zu und warf es mitsamt Liam zu Boden. Seine Zähne wollten sich in seinen Hals graben, aber ehe er es sich versah, lag ein zerrupfter Falke in dem Schutthaufen und kämpfte sich mit seinen Flügeln in die Luft.
"Du... schaffst... ni..." Seine Augen fielen zu und er fiel wieder. In meinen Arm. Ich war herübergerannt und nun hielt ich Liam schützend von seinem ehemaligem Freund weg.
"Keinen Schritt weiter!", rief ich und versuchte meine Stimme so fest wie möglich klingen zu lassen, aber trotzdem zitterte sie ein bisschen.
"Sagt wer? Das kleine, ängstliche Mädchen?" Marco schlich auf mich zu. "Lächerlich."
Ich zuckte die Schultern. "Du kennst mich nicht mal. Dieser Woodwalker, den du töten willst, ist mein Onkel!"
"Ach ja? Er hat mir immer erzählt, er hätte keine Familie mehr."
"Bis jetzt." Ich nutzte diesen sonderbaren, ruhigen Moment, riss das Fenster auf und sprang hinaus. Großer Fehler!
Der Boden unter mir war weit entfernt und die Höhe, in der ich mich befand, einfach grauenvoll. Ich versuchte instinktiv, mit den Armen zu "schlagen", schaffte aber lediglich ein peinliches Rudern.
"Katzenscheiße!", zischte ich und versuchtes es mit dem Verwandeln, was natürlich auch nicht klappte.
Aber es wäre eh schon zu spät gewesen, denn in diesem Moment schlug ich unsanft auf dem Boden auf.

Falkenfeder - Woodwalkers FanFictionWhere stories live. Discover now