Kapitel 2

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Alles um mich herum drehte sich, drehte sich immer und immer schneller. Ich versuchte, etwas zu tun, mich irgendwo festzuhalten, aber es gab nichts, was mir hätte helfen können.
Ein leises Röcheln Drang aus meiner Kehle und ich hatte das unangenehme Gefühl, gleich auch noch husten zu müssen. Aber es musste an der Kälte liegen, die mich umgab.
Ich kniff die Augen zu, versuchte, meinen Instinkt zum Leben zu erwecken. Vielleicht konnte ich es so schaffen, zu fliegen. Nichts.
Der Boden unter mir kam immer näher, ich konnte den Schmerz des Aufpralls fast schon spüren...
Doch nichts passierte. Rein gar nichts, außer... außer, dass ich leicht mit den Flügeln schlug!
Ich öffnete die Augen wieder und betrachtete die Gegend, in der ich mich befand.
Das Nest schien weit, weit weg in der Ferne zu sein und meine Eltern waren nur noch ein brauner, aber scharfer Fleck in der Ferne.
"Ich... Ich fliege!", flüsterte ich und drehte ein paar vorsichtige Kreise in der Luft, auf die meine Eltern sicher stolz waren. Endlich, endlich war ich ein richtiger Vogel! Wild und frei, wie ich es mir immer gewünscht hatte!
Noch ein paar Minuten nutzte ich dafür, die verschiedenen Flugtechniken auszuprobieren. Ich raste im Sturzflug auf eine Amsel zu, drehte im Gleitflug hoch oben im Himmel ein paar Runden und flog mit leichten Flügelschlägen wieder zurück zum Nest.
Mo und Marl waren noch nicht in Sicht - nur meine Eltern sahen mich an. Besorgt.
Ich schluckte. "Was ist? Ich kann fliegen!"
Mein Vater und meine noch etwas entschlossener wirkende Mutter blickten sich an, ich sah, wie ihre Blicke sich trafen.
"Ruby, im Norden wirst du dich sicher wohler fühlen. Es ist deine wahre Heimat, viel natürlicher, als Kanadas Süden. Für dich.", erklärte Alia und mein Vater nickte.
"Was soll das heißen?", wollte ich wissen und in meinem Hals bildete sich ein Kloß.
"Du wirst uns verlassen." Romos Stimme klang leicht zittrig. "Hast du gehört, du wirst dir ein eigenes Revier suchen."
Ich sah sie frustriert an. Sie wollten mich verstoßen? Wieso...
Meine Mutter unterbrach meine Gedanken: "Du weißt es nicht, aber du bist nicht unser echtes Kind. Deine leiblichen Eltern haben dich ausgesetzt und in unser Nest geschmuggelt. Naja, vermutlich."
Ich schüttelte den Kopf. Meine Gedanken überschlugen sich, wieder schien alles verschwommen und nur das Funkeln in Alias Augen war klar und deutlich zu sehen.
"Ihr... Ihr wollt mich verstoßen?"
Meine Eltern sagten nichts, eine ganze Weile lang. Dann reckte Romo plötzlich den Schnabel in die Luft und ein schriller, sehr lauter Laut drang durch meine Ohrmuschel.
Er wandte sich wieder mir zu und schloss die Augen.
"Vergiss uns nicht, Kleine." Seine Worte schnitten so scharf und klar durch meinen Kopf, dass ich auch so wusste, niemand anders konnte es hören.
Ich nickte, sah noch einmal zu meiner Mutter herüber und stellte mich dann an den Rand unseres Nests - bereit, abzuheben und nie wiederzukommen.
"Möge die Sonne dich auf deinem Weg begleiten!", rief Romo mir noch nach, als ich bereits losgeflogen war und sicher einige Meter zurückgelassen hatte.
Alles würde sich ändern, einfach alles! Wieso hatten mir Alia und Romo so etwas angetan? Ich konnte gerade mal seit ein paar Minuten fliegen, hatte noch nie eine Maus gefangen und konnte mich auch garantiert nicht gegen Feinde verteidigen. Ich würde sterben. Bestimmt. Ich würde hungern, gegen Bäume fliegen und mich von Kanibalen verspeisen lassen müssen.
Einen Moment lang überlegte ich noch, zurückzukehren - zu meiner nicht ganz perfekten Familie. Aber mir fiel wieder ein, wie erleichtert meine Mutter ausgesehen hatte. Wenn sie überhaupt meine Mutter war... Aber das war sie doch! Ich trug so viel von meinen Eltern in mir. Nur mein Aussehen, meine Art war nicht die gleiche.
In Gedanken seufzte ich. Warum bestrafte das Schicksal nur mich? Wieso war ich überhaupt ein Falke? Spielte die Natur gerade verrückt, weil diese sogenannten Menschen sie zerstörten? So hatte es mir jedenfalls Alia erklärt. Romo hatte nur eine milde Grimasse aufgesetzt, die wohl ein Lächeln darstellen sollte.
Weit unter mir erblickte ich zwei junge Adler, die verspielt hin und her rasten, wie zwei kleine Welpen in Spiellaune. Mo und Marl.
Wie glücklich sie auf einmal wirkten. Mit leuchtenden Augen und übermütigen Krächzlauten flatterten sie um sich herum, stupsten den anderen spielerisch an und keckerten leise, was ich aber trotz der weiten Entfernung wahrnahm.
Nach einem kurzen, verstohlenen Blick wandte ich mich wieder ab und flog weiter. Richtung Norden.

Falkenfeder - Woodwalkers FanFictionWhere stories live. Discover now