Lieber Detlev,
Wenn du diese Zeilen liest, haben wir wohl beide als Eltern versagt.
Du, indem du ihr in deinem Desinteresse keine nötige Versorgung hast zukommen lassen, obwohl du es könntest und verdammt nochmal Lyana's Vater bist! Und ich, indem ich nicht stark genug war uns beide durchzubringen und sie zu versorgen. Wobei ich echt alles versucht habe. Aber wenn man ohne alles schwanger auf die Straße gesetzt wird, ist es schwer einen Weg zu finden.
Ich wollte es nie sagen, aber jetzt muss ich es einfach aussprechen, denn es ist die Wahrheit: Du hast nicht nur mein Leben zerstört, sondern auch das deiner Tochter. Lyana kann für nichts etwas und dennoch hast du sie zu einem Leben auf der Straße verdammt, und jeder weiß wie schwer das Überleben auf ihr ist. Ich verlange nichts für mich von dir, ich bin mir durchaus bewusst, was für einen Fehler ich mit dir begangen habe, aber ich hätte nie gedacht, dass du auch ein unschuldiges Kind -dein Kind- in die Verdammnis schickst.
Ich habe dich geliebt, das habe ich wirklich, deswegen schmerzt es nun umso mehr. Du hast mir das Herz gebrochen, aber das ist ja nicht weiter schlimm, nicht wahr? Ich bin ja nur eines deiner Dienstmädchen gewesen, dass du aus Versehen geschwängert hast, obwohl du bereits eine Frau und einen Sohn hattest! Ich hätte mich niemals auf dich einlassen dürfen, dich niemals lieben dürfen, das ist mir nun klar, aber Lyana kann nichts dafür. Sie soll nicht unsere Fehler ausbaden müssen. Da mein letzter Versuch mit dir in Kontakt zu treten fehlgeschlagen ist, versuche ich es nun auf diese Weise.
Bitte, Detlev, ich flehe dich an. Nimm unsere Tochter zu dir, du musst sie ja nicht mal als solche anerkennen- gib ihr einfach nur ein Zuhause, lass sie meinetwegen sogar für dich arbeiten oder verschaffe ihr eine andere Arbeit. Nur bitte, bitte tu irgendwas. Denn sonst wird sie nicht mehr lange leben.
Auch wenn dieser Brief, sollte er dich erreichen, keinen Anklang bei dir findet, so habe ich es wenigstens versucht.

Deine dich einst liebende
Madell

Ich kannte nicht die Schrift meiner Mutter, aber dass sie so krakelig war, konnte ich mir gut vorstellen, schließlich erhielten nur die wohlhabenden Bürger eine Bildung und Unterricht. Ich war eher überrascht, dass sie überhaupt schreiben konnte. Aber es passte irgendwie zu ihr. Madell Kariba war schon immer lernwillig und wissensdurstig.
Ich schloss die Augen, um einen Moment einfach einmal alles um mich herum ausblenden zu können. Trotzdem konnte das nicht verhindern, das eine Träne unter meinen Lidern hervor quoll. Es passte. Es stimmte.
Detlev. Das war der Name, den meine Mutter manchmal im Schlaf gemurmelt hatte.
Die Tatsache, dass ich nie meinen Vater kennengelernt hatte und meine Mutter mir nie etwas über ihn verraten wollte. Das hätte ich bei so einem schrecklichen Rabenvater wahrscheinlich auch nicht getan.
Dann ihr Name und mein Name in diesem verzweifelten Brief an ihn.
Das ich Detlev auf dem Ball so bekannt vorgekommen bin. Ich hatte ihn an Madell erinnert, anscheinend seine einstige Geliebte. Mein Aussehen glich ihr wirklich sehr.
Und....Xander. Jetzt ergab sein anderes Verhalten mir gegenüber irgendwie Sinn. Warum er immer viel netter zu mir war, seine Maske in meiner Nähe nicht wirklich aufrecht erhalten konnte und sich um mich gesorgt hatte. Er wusste es. Er hatte es die ganze Zeit gewusst. Und er hatte es nie auch nur mit einem Sterbenswörtchen erwähnt, nichtmal Andeutungen hatte er wirklich gemacht.
Xander war mein Bruder -Halbbruder.
Diese Erkenntnis sickerte nur langsam zu mir durch. Wie ferngesteuert schoss mein Blick hoch und suchte in der aufgebrachten Menge nach ihm und....Detlev. Ich wollte ihn nicht als Vater bezeichnen, nicht nachdem, was ich da gerade gelesen hatte.
Als ich sie endlich entdeckt hatte, verhakten sich Xanders und mein Blick für ein paar Sekunden. Ich nahm ihn nun irgendwie ganz anders wahr. Einerseits fühlte ich mich ihm näher als je zuvor, doch andererseits schien da ein riesiger Spalt zwischen uns zu klaffen. In seinen Augen erkannte ich Wissen und gleichzeitig eine Mischung aus Angst und Schmerz. Überraschend viele und heftige Gefühle für jemanden wie Xander. Aber nachvollziehbar.
Mein Blick wanderte weiter zu dem Mann neben ihm, der mit herabhängenden Schultern einen ziemlich zusammengefallenen, gebrochen Eindruck machte, während Xander immer noch so stolz wie eh und je neben ihm stand. Als er den Blick hob und unsere Augen aufeinander trafen, konnte ich in einen wahren Gefühlssturm sehen. Da waren tiefgreifende Leid, bittere Reue, endloser Schmerz, zerreißende Verzweiflung, beißende Angst und eine alles verzehrende Sehnsucht. So viele Emotionen, so viele unausgesprochene Worte hingen zwischen uns in der Luft. Ich wandte den Blick ab. Stattdessen sah ich zu Leyon, der mich dichter an sich herangezogen hatte und über meine Schulter den Brief mitgelesen hatte. Haltsuchend drückte ich mich enger an ihn. Vorsichtig nahm er mir den Zettel aus der Hand und legte einen Arm um meine Taille.
,,Ich bin bei dir, Lyana.'', flüsterte er mir beruhigend ins Ohr, doch ich nahm es kaum war. Mir wurde gerade alles zu viel. Alles hier schien mich plötzlich zu erdrücken, ich bekam Panik. Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch alles was herauskam war ein heiseres Krächzen. Ich wollte hier weg. Weg von all diesen Menschen, die mich anstarrten und tuschelten, weg von diesen beiden Adeligen, die unsere Hochzeit ruiniert hatten, weg von Xander, der mich die ganze Zeit über belogen hatte, weg von dem Vater, der sich nie die Bezeichnung als solcher verdient hatte. Einfach weg von allem.
Ohne auf irgendetwas zu achten wie die Rufe von Leyon, riss ich mich von ihm los und stürmte nach draußen. Ich schaute nicht zurück, sondern rannte einfach nur so gut es in diesem Outfit ging so weit wie möglich fort. Ein genaues Ziel hatte ich nicht. Vielleicht war es dumm, vielleicht war es feige, aber im Moment wurde ich nur von dem Gedanken an Flucht dominiert. Die Folgen meines unüberlegtem Handelns und die allgemeinen Konsequenzen nach dieser öffentlichen Zurschaustellung konnten mich gerade nicht weniger interessieren. Nur fort von hier.
Ich rannte so lange, bis ich nicht mehr konnte. Dann ließ ich mich einfach an einem Baum herabsinken und vergrub das Gesicht in den Händen, während ich bitterlich zu weinen anfing. Zu viel. Das war zu viel. Erst der Druck der Hochzeit, dann die Enthüllung....wer war ich eigentlich? Ich war mit dem Wissen aufgewachsen ein Straßenkind zu sein, wertloser als der Dreck selbst- eine Ausgestoßene der Gesellschaft. Dann war ich für ein paar Jahre im wahrsten Sinne des Wortes das Mädchen für alles eines niederen Adeligen, selbst dem Vieh untergeordnet- eine Sklavin der Gesellschaft. Als nächstes kam ich zu den Rebellen und wurde eine von ihnen- eine Gegnerin der Gesellschaft. Nun bin ich die Verlobte des Prinzen- die künftige Königin der Gesellschaft. Und jetzt soll ich auf einmal auch noch adeliges Blut in mir haben- eine Hochwohlgeborene der Gesellschaft?
Wer war ich wirklich? Das Straßenmädchen, die Sklavin, die Rebellin, die Königin oder der Bastard von einer Adeligen? Wer? Wer?!
Was war mein Schicksal?
Ich erinnerte mich an meine Gedanken in manchen Momenten mit Xander und wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken. Ich hatte für kurze Zeit tatsächlich für meinen Bruder geschwärmt. Auch wenn ich es damals nicht wusste.
,,Lyana?'' Ich reagierte nicht. Auch nicht als ein Rascheln direkt neben mir ertönte und sich jemand zu mir setzte. Eine Weile war es still, bis auf die natürlichen Geräusche der Umwelt war nichts zu hören, dann räusperte sich Xander leise. ,,Ich habe dich nie angelogen, Lyana.''
Für einen Moment überlegte ich, ihn einfach zu ignorieren, aber letztendlich war es keine Option. Kindisches Benehmen war jetzt wirklich fehl am Platz. Und ich brauchte Antworten, Erklärungen.
,,Du hast mir aber auch nie die Wahrheit gesagt.'' Es war mir egal, dass meine Stimme bissig klang. Ich hatte jedes Recht dazu.
Xander seufzte. ,,Das kann ich nicht bestreiten. Aber gelogen habe ich nie. Vielleicht.....vielleicht hätte ich es dir sagen sollen, nur war ich mir erst zu unsicher, ob du es wirklich bist und dann, dann hielt ich es für besser es dir zu verschweigen.''
Ich runzelte die Stirn. ,,Wieso?'', hauchte ich brüchig.
,,Wieso?'' Mit einem Mal klang Xander gar nicht mehr wie der übliche Xander. Er hörte sich...bitter an. Gebrochen, irgendwie. ,,Was hätte es denn geändert? Hättest du wirklich zu diesem Mistkerl gewollt, der deine Mutter und dich wegen seines eigenen Fehlers und seiner Feigheit wissentlich in den Tod geschickt hat? Madell hat die Straße nicht überlebt und hätte ich dich nicht gefunden und mitgenommen, wärst du jetzt ebenfalls tot, Lyana!''Zum Schluss knurrte er nur noch, dennoch konnte es den bitteren Schmerz in seiner Stimme nicht verbergen. Und da wurde es mir klar. ,,Du hasst ihn, oder?'', stellte ich leise fest. ,,Du hasst deinen eigenen Vater.''
,,Ja. Und er hat es verdient.'', erwiderte Xander stumpf. Er lachte auf, doch es war kein schönes Lachen. ,,Ich war Acht als ich von deiner Geburt erfuhr. Durch Zufall. Mutter war gerade auf Reisen gegangen und hatte einen großen Teil der Dienerschaft mitgenommen. Detlev hat, da er gerade die Eingangshalle durchquert hatte, die Tür aufgemacht und war wie erstarrt im Türrahmen stehen geblieben. Ich bin hinter einer Ecke stehen geblieben. Es hatte an dem Tag geregnet, doch er hat den Besucher nicht hereingebeten, das hatte mich verwundert. In der Tür stand eine junge, klitschnasse Frau, die ein kleines Kind im Arm hielt. Ich habe Madell gleich erkannt, schließlich hatte sie viele Jahre für uns gearbeitet. Ich mochte sie, das hatte jeder bei uns im Haus getan, abgesehen von meiner Mutter, aber die mochte eh niemanden. Es hatte mich damals echt getroffen, als sie ohne ein Wort verschwunden war, erst später erfuhr ich, das Vater sie wegen der Schwangerschaft vor die Tür gesetzt hatte. Aus Angst sein Ansehen am Hof könnte sinken und der Ruf seiner Familie in den Dreck gezogen werden. Aber sie kam zurück. Madell stand eines Tages einfach bitterlich weinend vor der Tür mit diesem kleinen, niedlichen Geschöpf im Arm und flehte Vater an ihr gemeinsames Kind zu sich zunehmen, damit es nicht auf der Straße aufwachsen musste. Ich habe dich nur kurz gesehen, aber vom ersten Moment in dem ich dein verzückendes Gesicht sah geliebt. Du warst die kleine Schwester, die ich immer haben wollte. Ich hatte erwartet, dass er sie reinlassen würde, Madell war am Ende gewesen, dass hatte man ihr angesehen. Aber er tat das Gegenteil. Er hat ihr einfach die Tür mit den Worten ,Verschwinde, und komm nie wieder hier her zurück! Ich will weder dich noch dieses Kind je wieder sehen!' die Tür vor der Nase zugeschlagen. Ab diesem Moment habe ich ihn gehasst. Ich habe ihn dafür gehasst, dass er das getan hatte. Ich habe ihn dafür gehasst, dass er danach einfach so weiter gelebt hat wie zuvor. Ich habe ihn fortan für so vieles gehasst. Ich habe angefangen dich zu suchen, bin durch die Straßen gestrichen, in der Hoffnung dich zu finden.'', erzählte Xander. ,,Nun, den Rest der Geschichte kennst du. Nur das Detail, dass ich dich damals nur mitgenommen habe, weil du mir so bekannt vorkamst, nicht. Später erst ist mir dann klar geworden, woher. Du bist mit jedem Jahr deiner Mutter ähnlicher geworden.''
Ich schwieg. Das musste ich erstmal alles verarbeiten. Auch wenn ich den Fürsten von Lundos nicht wirklich kannte, so hätte ich ihm nie im Leben ein solches Verhalten zugetraut. Aber nun gab zumindest der Ausdruck in seinen Augen bei unserem Gespräch Sinn.
,,Was ist mit deiner Mutter?'', fragte ich. ,,Hat sie je herausgefunden, dass ihr Gemahl sie betrug und ein Kind außerhalb der Ehe gezeugt hatte?''
,,Meine Mutter starb auf der Reise, die ich eben erwähnt hatte. Ein plötzlich auftretendes Unwetter hat sie mit voller Kraft erwischt.'' Xander verzog seinen Mund zu einem zynischen Lächeln. ,,Nun, da stand mein Vater dann alleine da. Er hatte für einen kurzen Moment beide Frauen haben wollen und hat sich für die Falsche entschieden. Dann hat er schon mit dem Auftauchen deiner Mutter eine zweite Chance bekommen und hat wieder die falsche Wahl getroffen. Jetzt hat er niemanden mehr. Eine tote Gattin, eine erst verschmähte und später tote Geliebte, einen Sohn, der sich von ihm abgewandt hat und ihn hasst und eine Tochter, die er damals selbst verstoßen und seine Chance bei ihr damit verspielt hat. Wie gesagt, das hat der alte Mann verdient.'' Bei diesen hasserfüllten Worten lief mir ein unangenehmer Schauer über den Rücken.
,,Es tut mir leid, Xander.'', brachte ich schluchzend heraus.
,,Wieso entschuldigst du dich? Du kannst dafür doch noch am wenigsten etwas.''
,,Wäre ich nicht-‚'' ,,Wag es nicht, auch nur sowas zur denken, Lyana!'', fuhr Xander harsch dazwischen und packte mich an den Schultern. Tief sah er mir in die Augen. ,,Nichts davon ist deine Schuld, hörst du? Du bist hier mit am meisten die Leidtragendste gewesen! Das ist allein Detlev's Schuld, verstanden?''
Zögerlich nickte ich und Xander betrachtete mich noch einen Moment unsicher, bevor er mich schließlich an sich zog und fest in die Arme schloss. Für einen Moment erstarrte ich vollkommen, bevor ich die Arme um ihn schlang und mich dicht an ihn presste. An meinen großen Bruder. Es hörte sich immer noch so unrealistisch an. Es würde wohl noch eine Weile dauern, bis ich das Ausmaß dieser ganzen Enthüllungen und Erkenntnisse wirklich begriffen hatte.

Lyana- The Story of a QueenWhere stories live. Discover now