Die Matrosen konnten sich an den prall gefüllten Segeln kaum sattsehen. Es war geschafft! Der Feind hatte aufgegeben! Sie waren nicht länger die Verdammten der Meere!

Aber der Wind tat noch mehr: Er verscheuchte die Wolken, der verhangene Himmel riss auf, die Sonne brach durch und schickte goldene Strahlen über das Schiff. Wie verzaubert unterbrachen die Männer ihre Arbeit, hoben die Gesichter und tranken die lang entbehrten Sonnenstrahlen in sich hinein, badeten förmlich darin. Und wie sie so verharrten, ganz diesem wundervollen Augenblick hingegeben, zog einer nach dem anderen die Mütze vom Kopf und die Jacke aus. Jeder hatte plötzlich dasselbe Grinsen im Gesicht.

Lorena beschlich eine leise Ahnung. Wer sprach es zuerst aus?

„He Leute, wisst ihr, warum?", rief Roluf übermütig. Die Männer nickten lachend und erklärten, sie litten gar nicht am Fieber, sondern ...

„Es ist wärmer geworden, Freunde!", rief er triumphierend aus.

Lorenas Herz hüpfte vor Freude. Er hatte Recht! Wärmer. Ja, die Temperatur stieg, das war keine Täuschung, sie fühlte es auf der Haut! Dabei war es noch nicht einmal Mittag.

Nachdem sich alle wieder beruhigt hatten, geschah etwas Seltsames: sie erwachten gleichzeitig wie aus einem bösen Traum. In den letzten Wochen hatte der schier endlose Kampf mit dem Gegenwind ihr Leben bestimmt; sie waren immer mehr verwahrlost und hatten es kaum bemerkt. Nicht, dass jemals viel Wert auf das Aussehen eines Musterknaben gelegt worden wäre. Aber -

... was war aus der Besatzung der stolzen Zeelandia geworden!?

Gezeichnet von schwarzen Ringen unter den verquollenen Augen, wucherndem Bartgestrüpp, dazu die Kleider fleckig und an manchen Stellen zerfranst - kurz, sie sahen allesamt aus wie eine Räuberbande, die jahrelang im tiefen Wald gehaust hatte. Verlegen schauten sie sich an und schüttelten die Köpfe. Ove glich mit seinem langen Vollbart und dem wildgewachsenem Haar mehr denn je einem Bären. Bei Janko, Sjard und Roluf dagegen fiel der Wildwuchs im Gesicht dank des hellen Haars weniger auf.

Lorena wollte lieber nicht wissen, wie sie aussah; in ihrem Fall allerdings überdeckte der Schmutz den fehlenden Bart, schon deshalb hatte sie die gewohnte Reinigung vernachlässigt. Bloß juckte mittlerweile die Haut.

Aber solche Äußerlichkeiten waren nicht das einzige Problem.

„Meine Muskeln schmerzen wie die Hölle! Es zwickt überall", begann einer zu klagen.

Dann der nächste: „Ich kann mich kaum bewegen. Alles steif!"

Nun stimmten auch die anderen mit ein: „Die Knochen tun weh! Diese verdammte Feuchtigkeit!" - „Ich hab' mir 'nen Leistenbruch beim Tauziehen geholt." - „Ich auch!" - „Und ich!" So schallte es von allen Seiten. Einige husteten bellend dazu.

Alles fürs Schiff.

Lorena rechnete damit, dass der Schiffsarzt gleich mehr als genug zu tun bekommen würde. Die innere Anspannung, der Zwang, immer durchhalten zu müssen, hatte jeden an Bord aufrecht gehalten, dauernd mit der Gefahr im Nacken, dass es nicht ausreichen würde. Der Körper forderte Tribut. Die Pflicht war erfüllt, die Aufgabe erledigt, nun war es Zeit für Heilung. Bakker würde es gewiss dulden, mit einer schneckenlahmen Mannschaft konnte er nicht weit kommen. Zumindest nicht nach Hause.

Und sie selbst? Kummervoll betrachte sie ihre Hände. Rau wie Reibeisen. Die Strapazen hatten sich darin eingegraben und tiefere Spuren hinterlassen als beim Torfstechen im Watt.

Tuulgraben. Wie lange das her war!

Es hatte mit kleinen Rissen zwischen den Fingern angefangen, bis die Haut weiter aufplatzte. Jeder Handgriff tat weh, aber was sollte sie sonst machen? Die Handschuhe halfen nur beim Tauziehen, damit konnte man sich in der Takelage nicht halten. Ziemlich unangenehm waren auch die Salzwasserbeulen am Hals und an den Handgelenken. An diesen Stellen hatte die steife Teerjacke die Haut wundgescheuert, zusammen mit der Kälte und dem Salzwasser hatten sich Schwellungen gebildet. Am Anfang der Reise waren ihr bei einigen Matrosen die Narben an Handgelenken und Hals aufgefallen; nun wusste sie den Grund.

🌊Der Stern des Meeres🌊*WattyWinner 2019*Where stories live. Discover now