Kapitel 1

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Krankenhäuser machen mich nervös. Das war schon immer so, und heute ist es nicht anders. Meine Instinkte befehlen mir zu fliehen, trotzdem betrete ich die Klinik und versuche mir dabei vorzustellen, sie wäre ein Luxushotel. Auf den ersten Blick kann ich tatsächlich keinen großen Unterschied ausmachen. Der Eingangsbereich ist klar und nüchtern, geschmackvoll und edel. Ein künstlicher Orangenduft schlägt mir entgegen und legt sich auf meinen Gaumen. Dennoch kommt er nicht gegen den strengen Geruch des Desinfektionsmittels an, der mir viel zu schnell meine Illusion raubt.

Meine Knie wollen nachgeben, aber das erlaube ich nicht.

Ich habe keine Wahl. Also zwinge ich mich, mit großen Schritten zum eleganten Empfangstresen zu marschieren. Der energische Klang meiner Stöckelschuhe auf dem Marmorboden zieht die Aufmerksamkeit der Empfangsdame auf sich. Ihr Lächeln erinnert mich an Zahnpasta Werbung, ihre Hochsteckfrisur an den Opernball.

Hastig vergrabe ich die Hände in den Taschen meines anthrazitfarbenen Hosenanzugs. Niemand darf sehen, wie sehr sie zittern.

„Sarah Wagner, ich habe einen Termin um neunzehn Uhr." Meine Stimme schwankt, aber ich bekomme sie schnell wieder in den Griff.

„Natürlich, Frau Wagner." Ihre Freundlichkeit wirkt aufgesetzt, die Bewegungen sind mechanisch.

Ich kann ihr nicht in die Augen sehen, will ihr meine Panik nicht zeigen und noch weniger meine Zweifel. Zum Glück senkt sie jetzt ihren Kopf und durchsucht das Tablet auf ihrer Schreibtischunterlage nach meinem Namen. Mein Blick verfolgt den Weg ihrer perfekt manikürten Fingernägel. Sehr stilvoll, genauso wie diese Klinik.

„Hier haben wir Sie. Bitte nehmen Sie Platz, Sie werden in Kürze aufgerufen."

Sie malt einen Haken neben meinem Termin und sieht erneut zu mir hoch. Mit einer vornehmen Handbewegung weist sie mir den Weg ins Wartezimmer und nickt aufmunternd. Sie kennt den Grund, warum ich hier bin, und trotzdem behandelt sie mich, als würde mich nichts weiter als eine harmlose Massage erwarten.

Ich bedanke mich, schließlich ist es wichtig höflich zu sein, ganz egal, ob einem gerade danach ist. Das behauptet zumindest meine Mutter und wenn es jemand weiß, dann sie. Eigentlich müsste ich jetzt losgehen, aber schon wieder will mir mein Körper nicht gehorchen. Stocksteif stehe ich immer noch am Empfang. Hier kann ich keinesfalls bleiben.

Kampf oder Flucht, was soll ich tun?

Ich beiße mir auf die Lippen, diese Wahl habe ich nicht und es ist an der Zeit, das endlich zu begreifen. Für mich gibt es allein einen Weg und der führt mich ins Wartezimmer. Dort angekommen überfällt mich das Gefühl, ich wäre in einem Hochglanzkatalog gelandet, dem die Farben abhandengekommen sind. Nur das Grau, das Schwarz und das Weiß sind geblieben.

Die grafitfarbenen Stühle stehen so perfekt aneinandergereiht, als hätte sie jemand mit der Wasserwaage ausgerichtet. Der Glastisch in der Mitte hat weder Kratzer noch kann ich Fingerabdrücke auf der glänzenden Oberfläche ausmachen. Darauf steht nichts weiter als eine Schale, aus der eine Orchidee wächst. Das Grün ihrer Blätter ist dunkel und die Blüten scheinen nicht einen einzigen Makel zu haben. Ich laufe dicht an ihnen vorbei, um zu erkennen, dass sie nicht lebendig sind.

Lautlos gleite ich auf einen der Stühle und richte meinen Blick auf die Glasfront, hinter der schlagartig alles bunt wird.

Aber ich bin hier drinnen.

Mit kaltem Schweiß auf meinem Rücken und Knochen, die sich anfühlen, als wären sie so zerbrechlich wie Porzellan.

Auf der Suche nach Stabilität überkreuze ich meine Beine, mein Stuhl gibt ein Quietschen von sich. Obwohl es nicht besonders laut ist, übertönt es für einen Moment jedes andere Geräusch. Gleich danach ist es wieder still, nur das Rascheln von Zeitungen und das Klacken der Computertastaturen am Empfang sind zu hören. Betreten senke ich den Blick und lasse meine Schuhe über den Boden wandern. Er glänzt im beinahe waagrecht einfallenden Sonnenlicht. Gebrauchsspuren suche ich auch jetzt vergeblich, obwohl ich weiß, wo sie sein müssten. Hier, zwischen der Sitzgruppe für die Patienten und den Schiebetüren aus Milchglas dort drüben, hinter denen sich die Behandlungsräume befinden. Sie gleiten lautlos auf und zu, verschlucken einen Menschen nach dem anderen und verbergen dabei elegant, was immer hinter ihnen passiert.

Ob es dort auch noch das Schwarz und das Grau oder nur noch das Weiß gibt?

Die Wahrheit ist, ich muss die Räume nicht sehen, um zu wissen, dass es dort ebenso kalt ist, wie hier.


Ich kann nichts als hoffen, dass das außer mir niemand bemerkt. Und solange ich dem Drang, meine Hände an der Hose zu trocknen widerstehen kann, wird das auch so bleiben. Mein Gesichtsausdruck verrät mich nicht, Er muss meinen Kommandos folgen und heute befehle ich ihm, stark zu sein. Mein Kinn hebt sich gerade weit genug, um nicht überheblich zu wirken, die Mundwinkel ziehen sich nach oben. Nur ein kleines bisschen. Es soll kein Lächeln sein, sondern so aussehen, als ob mit mir alles in Ordnung wäre.

Mehr sollte nicht notwendig sein, den Rest erledigt das Make-up. Es verheimlicht, wie blass mich meine Angst werden lässt und überdeckt die dunklen Schatten, die die Alpträume unter meinen Augen hinterlassen haben. Genauso wie hunderte von Sommersprossen, die sich jetzt im Frühsommer besonders auffällig auf meinen Wangen tummeln. Sie passen nicht zu mir, machen mich jung und naiv. Beides will ich nicht sein. Ganz egal wo ich bin, und am wenigsten hier, im Wartezimmer dieser Klinik.

Egal, wie sehr ich mich bemühe, das, was mir sonst leichtfällt, kostet mich heute mehr Kraft, als ich habe. Schon wieder drohen die Gefühle in meinem Gesicht erkennbar zu werden. Das gezwungene Lächeln entgleitet mir, meine Augen werden wässrig feucht. Ich kann nicht anders und streiche mir zur Beruhigung die Haare am Oberkopf glatt. Meine Frisur muss perfekt sitzen. Jeden Tag trage ich sie, ich kann mir den Dutt sogar im Schlaf binden, wenn es sein muss. Dabei darf kein einziges meiner rotblonden Haare aus der Reihe tanzen, alle meine Locken müssen sauber geglättet und hochgesteckt werden. Ich ertaste eine lose Strähne, stecke sie sorgfältig nach hinten und prüfe den Sitz der Ohrringe. Sie haben meiner Großmutter gehört und sind ebenso altmodisch wie sie. Für mich sind sie ideal. Nicht, weil sie mich an Oma erinnern, sondern weil sie meinem Aussehen mindestens fünf Jahre zusätzliche Lebenserfahrung verschaffen.

Man könnte denken, ich wäre Anfang Vierzig, obwohl ich gerade erst Dreißig geworden bin. Mir ist das recht. Schließlich lebe ich davon, anderen etwas vorzutäuschen. Und es hilft mir auch jetzt, genau in diesem Moment, in dem die Angst unaufhaltsam in mir hochkriecht.

Sie hat hier nichts verloren.

Ich schlucke sie mit aller Gewalt hinunter. Noch einmal, und noch ein weiteres Mal. Immer wieder kommt sie zurück an die Oberfläche, wie ein Luftballon, den man nur solange unter Wasser drücken kann, wie die Kraft dafür reicht.

Langsam löse ich meine Beine voneinander und lasse meine Handflächen unauffällig über den weichen Stoff der Hose zu meinen Knien gleiten. Dort verschränke ich meine Finger, die unaufhörlich zittern, wenn sie ohne Halt sind. Auf den Handrücken zeichnen sich blaue Adern ab. Sie müssten angeschwollen sein, wo doch das Blut wie ein Wildbach durch meinen Körper rauscht. Aber sie sehen aus wie sonst auch, glatt und viel zu mager. Meine Finger erinnern mich an die einer Hexe, allein die zartrosa manikürten Fingernägel wollen nicht dazu passen. Ich kann sie nicht stillhalten, also drücke ich die Nägel in meine Haut.

So fest bis es weh tut.

Es ist ein Schmerz, den ich gerne spüre. Er schafft es zumindest für einen Moment, den anderen zu bezwingen, und ich fühle mich sicher genug, um meine Augen wieder aufzuschlagen.

Trotzdem sehe ich mich nicht um, die anderen Frauen im Wartezimmer beachte ich nicht. Viel zu groß ist die Gefahr, dabei einen runden Bauch zu entdecken. Nichts könnte mich so aus der Bahn werfen, wie nur eine einzige Schwangere, die ihre Hand schützend auf ihren gewölbten Körper legt. Mit dieser Art von Zärtlichkeit, die es auf dieser Welt kein zweites Mal gibt. Der Anblick würde meine Angst verschwinden lassen und einem Gefühl Platz machen, das ich noch viel weniger gebrauchen kann. Ich spüre es schon seit Tagen tief in mir. Es überfällt mich im Schlaf, genau dann, wenn ich so wehrlos und verletzlich bin, wie der winzig kleine Mensch in meinem Bauch.

Ein Schuldgefühl, das alles übertrifft, was ich bisher erlebt habe.

Mein Baby muss heute sterben. Ich lasse es entfernen, als wäre es nichts weiter, als ein hässliches Muttermal mitten auf meiner Stirn.


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⏰ Last updated: Apr 13, 2020 ⏰

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