Lesenacht Teil 3: Vertrauen, oder der berechtigte Mangel davon.

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Wie er versprochen hatte, nahm Constantin vollkommen unzeremoniell neben mir Platz und ließ seinen Blick über die versammelten Köpfe wandern. Caridad war ebenfalls da. Müde von was-auch-immer für nächtliche Aktivitäten er schon wieder betrieben hatte, hing er quer über seinen Stuhl, die Augen zugefallen und den grauen Hund in seinem Schoß. Er musste sich hierfür aus dem Bett gequält haben und sein Anblick ließ mich lächeln.

Neben ihm, zwei Stühle weiter, weil Caridad seine Beine ausgestreckt hatte, saß Dara Sarei und nickte mir ermutigend zu. Seine Anwesenheit tat mir fast noch besser, als Constantins versprochener Beistand. Wenn es brenzlig würde, konnte ich mich auf sein Hintergrundwissen verlassen.

Darüber hinaus war eine erstaunlich hohe Anzahl Senatoren anwesend, inklusive Senator Menhelles und Fidei Defensor Holus, die ich geflissentlich ignorierte.

Kaum da ich mich gesetzt hatte, brachte man den Angeklagten durch die Seitentür herein. Das Rasseln seiner Fußfesseln ließ den Raum verstummen wie ein verabredetes Zeichen. Zwei Soldaten in glänzenden Rüstungen flankierten ihn und geleiteten ihn direkt vor meine Tribüne.

Sein Aussehen enttäuschte mich insofern, wie man von jemandes Erscheinung enttäuscht werden konnte. Als Constantin mich auf dem Weg hierher grob mit Details seiner Anklage versorgt hatte, hatte ich versucht, mir ein Bild von ihm zu machen. Ein grobschlächtiger Kerl mit winzigen, bösartig funkelnden Augen, der unvorsichtigen Mädchen in dunklen Winkeln der Stadt auflauerte. Oder ein eingebildeter Schönling, vielleicht sogar adelig, der nicht mit Zurückweisung umgehen konnte.

Stattdessen stand vor mir ein in jedem Sinne durchschnittlicher Kerl mit einem beängstigend freundlichen Lächeln. Oder war es einfach nur beängstigend, dass er selbst jetzt noch lächelte? Er hielt seine gefesselten Hände entspannt vor einem verdreckten Oberteil, das während seinem Aufenthalt in den Zellen gelitten hatte. Sein braunes Haar war ähnlich verschmutzt, doch seine Gesichtshaut hatte noch Farbe und seine dunklen Augen keinen panischen Schimmer. Constantin hatte erwähnt, dass er Verbindungen zum Palast aufwies, doch sicherlich nahm er deshalb nicht an, dass er für seine Verbrechen ungestraft davonkommen würde?

Doch seine entspannte Haltung hielt sich über den Verlauf des Vormittags, während mehrere Zeugen ihre Aussage machten und die Familien der Opfer ihre Anklagen vorbrachten. Der Fall war eigentlich klar. Er hatte zwei Mädchen außerhalb eines beliebten Inns abends aufgelauert und sie in Seitengassen gezogen. Dabei war er einmal von dem Inn-Besitzer beobachtet worden und einmal von einer Reisenden, die für diesen Prozess in der Stadt geblieben war.
Das dritte Mädchen hatte er während seiner Arbeit getroffen, sie unter falschen Vorwänden zu sich nach Hause gelockt und dort misshandelt.

Was an dem Fall allerdings erstaunlich war, war die Tatsache, dass es erst jetzt zu einem Prozess kam. Jeder der Zeugen und die Familien der Mädchen berichteten, dass man ihnen anonym Entschädigung in Form von Geld angeboten und später gedroht habe. Erst als ihnen bewusst wurde, dass sie kein Einzelfall war, habe man sich getraut, sich an den König zu wenden.

„Wie wurde zu Ihnen Kontakt aufgenommen?", befragte ich den Vater des dritten Mädchens, der als Letztes in den Zeugenstand gerufen wurde.

Es war Gänsehaut erregend. Ich kannte ihn aus meiner Kindheit, als er bei meinem Vater einmal eine eiserne Verstärkung für den Gehstock seines Vaters bestellt hatte. Er war ein dicklicher Mann mit einem farblosen Kranz aus Haaren, der sich deutlich gegen die gestresst-rote Färbung seines Gesichts abhob.
„Wie bei den Anderen", brachte er atemlos hervor und zog einen zerknitterten Briefumschlag aus seiner Hosentasche, „Jemand steckte einen Brief mit Anweisungen und Geld in unsere geschlossenen Fensterläden."

Einer der Soldaten nahm ihm den Umschlag ab und reichte ihn mir. Es war kein Geld mehr darin, aber seine gelbe Färbung und die Handschrift des Briefes passten eindeutig zu dem anderen Exemplar, das mir die Familie des ersten Opfers gegeben hatte.

Das Königreich der Geheimnisse - Band 1Where stories live. Discover now