Lesenacht Teil 1: Erinnerungen an Vater

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Zufrieden mit der Pause, die meine Überlegungen mit sich gebracht hatten, bot Dara Sarei mir seinen Arm an.
„Wärst du trotzdem so großzügig und würdest mit einem alten Familienfreund einen Spaziergang machen?"

Lachend nahm ich an. Mein Vater und der Senator waren bereits vor meiner Geburt so gut befreundet gewesen, dass ich ihn von klein auf als Onkel bezeichnet hatte. Auch, wenn wir natürlich nicht verwandt waren, sah ich ihn als Familie. Meine einzige noch lebende Familie.

Er führte mich zurück in die Stadt hinein, nickte am Tor jedem der Soldaten einmal zu und verteilte Silberstücke an die bettelnden Kinder. Wir mieden den großen Marktplatz und flanierten stattdessen in den mittleren Ring der Stadt, in dem auch meine Schule stand.
Onkel Dara erkundigte sich höflich, wie ich zurechtkam, ob meine Schulmeisterin zufrieden mit mir wäre oder es Probleme gäbe, in die er sich einmischen müsse.

Ich erkannte das Ziel unseres Spazierganges erst, als wir direkt vor dem Eingang eines winzigen Parks standen. Und wenn ich winzig sage, dann meinte ich: Der Park hatte genau einen Baum. Eine uralte Eiche, die nur nicht gefällt wurde, weil man sich unsicher war, ob es sich nicht um das vergessene Grab eines vergangenen Königs handle. Nach einem Brand in der Palastbibliothek hatte man einige Aufzeichnungen über verschiedene Grabstätten verloren.

Jetzt war es der einzige Park im mittleren Ring und selbst der wurde so gut wie nie genutzt. Er lag direkt am mittleren Stadtmauerring, mit zwei Häusern, die ihre langen Schatten auf seine winzige Rasenfläche warfen. In zwanzig Schritten konnte man jede Grenze des Parks erreichen und in seinem Zentrum stand beschriebene Eiche.

Irgendjemand hatte noch halbherzig versucht, Büsche anzupflanzen, von denen jedoch nur drei der geplanten Hecke etwas geworden waren. Ich wusste nicht, wer sich die Mühe machte, sie hin und wieder zu stutzen oder kostbares Wasser darauf verwendete sie am Leben zu halten, aber dem verträumten Blick nach zu urteilen, war es mein Onkel.
„Dein Vater hat diesen Ort geliebt", vertraute er mir unter der Eiche an.

Ihre Blätter wisperten im spätsommerlichen Wind und der frische Duft des Grases hüllte uns ein. Ich fuhr mit den Fingerspitzen über die verknotete Rinde. Es war leicht sich vorzustellen, dass der Baum sich an meinen Vater erinnerte und irgendwo dort drinnen Bilder von dem Mann lagen, die für mich mit jedem Tag weiter verschwommen.
„Vater hat hier meine Mutter kennengelernt." Das hatte er mir zumindest erzählt.

Dara Sarei nickte versonnen.
„Schöne Geschöpfe wurden schon immer von schönen Orten angezogen", er seufzte, „Weshalb ich auch bis heute nicht verstehe, warum er dich nie mit heim nach Kesh genommen hat."

Kesh. Es war schwierig, sich diesen Ort vorzustellen. Vater und Dara Sarei sprachen von ihrer Heimat, als wäre es das Paradies auf Erden. Weiches Gras, milde Sommer und Bachläufe, Seen und Flüsse, ja sogar ganze Ströme so weit das Auge reichte. Ich hatte den nagenden Verdacht, dass sie ein wenig übertrieben. Zumindest passte es nicht zu den teilweise widerwärtigen Geschichten, die die anderen Bewohner Clevems über ihr Nachbarland auf dem Grund berichteten.
„Ich weiß, dass er es vermisst hat", antwortete ich schließlich, „Er hat gesagt, dass wir zurückziehen würden, sobald wieder ein Krieg ausbräche und das Geld für Waffen wieder fließe."

Dara Sareis Hand kam schwer auf meiner Schulter zum Liegen.
„Aber der Frieden lebte weiter."

„Und er nicht."
Es war eine traurige Tatsache, aber ich weinte schon seit Jahren nicht mehr darüber. Wenn ich Dara Sarei Glauben schenken durfte, ging es ihm jetzt besser. Und wenn ich den Priestern Des glaubte, war er irgendwo auf dieser Welt. Ich hatte ihn nicht verloren.

„Aber er hat mir das wertvollste Geschenk überlassen, dass ich mir vorstellen könnte." Selbst durch meine bewölkten Gedanken spürte ich Dara Sareis warmen Blick auf mir. Seine Ernsthaftigkeit. Und die Wertschätzung meiner Person.

Das Königreich der Geheimnisse - Band 1Where stories live. Discover now