Probleme sind Herdentiere

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Jeder der Reisenden hatte einen anderen Weg zu ihrem Treffpunkt genommen und als Loki zwischen zwei Felsen und dichtem Gestrüpp hervortrat, fand er Thor und Balder schweigend und wartend vor. Auch Loki schwieg; die Lust auf Reden war ihm absolut vergangen.
Zum ersten Mal in seinem Leben war er daher froh, als Freya und zwei ihrer treusten Männer von der anderen Seite her auftauchten und die unangenehm drückende Stille durchbrachen. Auch sie waren zu Fuß unterwegs, mit Pferden würden sie in Jotunheim nicht besonders weit kommen. Freya trug einen weißgrauen Pelz mit dem Wappen der vanischen Königsfamilie, ihr Blick war entschlossen und ihre Bewegungen frei von Angst.
Sie würde eine gute Herrscherin abgeben. Auch wenn er sie nicht wirklich leiden konnte, empfand er in diesen Stunden äußersten Respekt für die Kriegerin. Vielleicht aber auch, weil sie wenigstens immer gerade heraus sagte, was sie dachte und man sich sicher sein konnte, dass sie es auch so meinte.
„Der Trampelpfad hat sich ganz schön verändert, seit wir als Kinder hier gespielt haben", brummte die Vanin missmutig und streifte sich die restlichen Dornenbüsche von der Rüstung.
„Verzeiht, hätte ich gewusst, dass die Dornen Eure Hoheit derart belästigen, hätte ich einen anderen Weg vorgeschlagen", schmunzelte Loki.
„Halt die Klappe, Loki", fauchte Freya bissig zurück.
Thors Blick traf Loki kurz darauf mit einer Mischung aus Ungeduld und Belustigung; der Kronprinz fand ganz offensichtlich witzig, dass Freya durch verdorrte, stachelige Büsche hatte kriechen müssen und nun aussah wie ein gerupfter, nidvallscher Truthahn.
Es gab also noch Hoffnung. Vielleicht würde er nicht als steifer Herrscher mit Stock im Hintern enden, wie sein Vater.
„Gehen wir", beschloss Thor schließlich und setzte sich in Bewegung, wobei die anderen ihm kommentarlos über die Ebene folgten.
Selbst Balder, der alles immer ziemlich locker nahm, schien angespannt und spielte die ganze Zeit nervös mit den Riemen seiner Beutel, den Blick gedankenversunken auf den Boden gerichtet. Andererseits war es sein gutes Recht, angespannt zu sein. Schließlich reisten sie nach Jotunheim und nicht an die Strände Vanaheims, um die Sonne zu genießen.

Als sie vor der Felsformation ankamen, lief Loki zu dem kantigen Gestein, legte prüfend einen behandschuhten Finger darauf. Eine Weile verharrte er so, lief von links nach rechts, tastete, schloss die Augen.
„Was soll das werden, Trickster, hm? Ich dachte du weißt wo es lang geht?", schnaubte Freya ungeduldig und begann mit dem Fuß über den Boden zu scharren, wie ein nervöser Bulle.
Loki rollte kaum merklich mit den Augen und wandte sich an die Gruppe, als versuche er einem Haufen Kinder Magie zu erklären. „Ich weiß, wo es lang geht. Aber jeder von euch stellt sich Magie immer so einfach vor; Loki zauber dies, Loki zauber das – es braucht Kraft, um ein Portal zu erschaffen und überhaupt ist nur eine Handvoll Seidr dazu in der Lage. Ich suche nach der Stelle mit dem größten eigenen Magiepotenzial, das dauert eben eine Weile. Es sei denn ihr zieht es vor, mich durch Jotunheim zu tragen, weil ich zu ausgelaugt zum Laufen bin."
Thor sah von Loki zu Freya und sein Blick gebot der Vanenprinzessin Geduld, zugleich hatte er etwas Mahnendes. Fast kam es Loki vor, als wäre Thor nach ihrem Gespräch besonders darauf bedacht, ihn in Schutz zu nehmen, als könnte er damit alles wieder gutmachen, was die letzten Jahre schiefgelaufen war. 

Loki wies die Gruppe an, zurückzutreten, machte selbst ein paar Schritte von dem Felsen weg und konzentrierte sich. Die  Augen zu angestrengten Schlitzen verzogen, streckte er beide Hände aus. Er konnte fühlen, dass ein Teil des Bifrösts verborgen unter dem Stein lauerte, wie eine Hintertür, eine Seitenstraße, die längst in Vergessenheit geraten war. Es dauerte etwas, bis die Magie unter seinen Fingern sich sammelte, formte, Befehle an den geheimen Teil der Regenbogenbrücke weiter gab, bis nach und nach ein sanfter Schimmer in der Luft erschien.
Gut, den Durchgang hatte er gefunden. Jetzt musste er ihn nur noch greifen, Energie hinzugeben und den Pfad öffnen.
Loki konzentrierte sich so sehr, das er alles andere um sich herum ausblendete. Er hatte zugegeben noch nie ein Portal alleine geöffnet, ohne Hilfe fremder Magie oder Energiezufuhr, aber das war kein guter Moment, es zuzugeben. In Gedanken hatte er es tausend Mal gemacht und es musste einfach funktionieren. 

Herz über Kopf #2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt