| 06. BROTHER

4.7K 315 23
                                    



Sergio war der einzige, der mich heute schon ohne Kratzer gesehen hatte, deswegen hob er die Augenbrauen, als Jenson und ich die Garage betraten. Dann warf er Jenson einen fragenden Blick zu, doch dieser schüttelte nur den Kopf, was Sergio zu akzeptieren schien. Ich stürzte mich voll in die Arbeit, bloß um alles, was gerade eben passiert war für einen Moment zu vergessen. Nicht gerade förderlich war, dass ich heute Vormittag an Jensons Auto arbeiten musste. Ich sollte mich diesmal um den Frontflügel kümmern, und weder Sergio noch Jenson wichen mir von der Seite.
"Lineal", murmelte ich geistesabwesend und sofort drückte mir Jenson das eben verlangte Objekt in die Hand.
Ich sah hoch. Es war so ein neues Gefühl sich mit Jenson zu verstehen.
"Danke", sagte ich schlicht. In diesem einen Wort lag so viel mehr als der Dank für ein simples Lineal. Nein, darin lag die Freude über unsere neue Freundschaft, der Dank für das nächtliche Aufwecken im Zug und für die Rettungs- und Verarztungsaktion vor wenigen Minuten. Und dieses eine Wort hatte eine unglaublich starke Wirkung auf ihn.
Er sah mir direkt in die Augen, so intensiv, dass mir unwillkürlich schwindelig wurde.
"Kein Problem", erwiderte er heiser. Dann drehte er sich abrupt um, und verließ die Garage so fluchtartig, dass ich für einen Moment gar nicht bemerkte, dass er nicht mehr vor mir stand und mich einfach nur ansah.
Sergio, der alles mitbekommen hatte, sagte gar nichts, und tat so als hätten die letzten Vorfälle gar nicht stattgefunden. Ich war ihm dafür mehr als dankbar. Mit einem leisen Seufzer begann ich den kleinen Flügel, der am großen Frontflügel anlag, zu vermessen.
Jenson tauchte den ganzen Vormittag nicht mehr auf. Anscheinend hatte er entschieden einfach mal blau zu machen.
Als sich die übrigen Techniker und Sergio zum Mittagessen aufmachten, blieb ich allein in der Garage zurück. Ich hatte einfach keine Lust in einer vollgestopften Cafeteria meine Pause zu verbringen. Ich würde es einfach wie gestern machen. Ein kleiner Spaziergang um den See, war genau das was mein aufgescheuchtes Gemüt jetzt brauchte. Durch den Haupteingang verließ ich das Center und ging gemächlich den Weg um den See entlang. Ich kam gerade an einer Baumgruppe vorbei, als mich eine Stimme aus den Gedanken riss.
"Hey." Etwas verwirrt drehte ich mich nach dem Ursprung der Stimme um, und es dauerte einen Moment, bis ich realisierte, dass Jenson hinter einem der Bäume hervorgetreten war.
Er hatte seine Hände in den Taschen seiner Lederjacke vergraben und wirkte dort draußen in der Natur noch blasser als sonst, was das dunkle Braun seiner Augen noch viel mehr herausstechen ließ.
"Oh, hi." Ich versuchte gelöst zu wirken, und nicht wie das Nervenbündel, dass ich in seiner Gegenwart eigentlich abgab. "Wo warst du?"
"Hier." Er machte eine ausholende Geste über den See und den Park rundherum. Toll, eigentlich hatte ich wissen wollen, warum er so plötzlich abgehauen war, und nicht wohin. Aber wenn ich wohl nicht genau diese Frage stellte, würde ich wohl auch keine Antwort bekommen.
Inzwischen trug ich wieder meine eigenen Klamotten, da sie im Laufe des Vormittags getrocknet waren. Ein bisschen hatte es mir schon leidgetan, Jensons Sachen wieder ablegen zu müssen.
"Machst du einen Spaziergang?", fragte er mich nach einer kurzen Weile, in der Stille geherrscht hatte. Ich nickte und fixierte dabei ein Astloch über Jensons rechter Schulter, um ihn nicht die ganze Zeit über anzustarren.
"Darf ich dich begleiten?" Oh mein Gott, wie süß er mich das fragte. Ein wenig zurückhaltend, als rechnete er fest mit einer Zurückweisung. Wer wies denn ihn bitte ab?
"Klar", antwortete ich möglichst neutral, wobei in meinem Inneren alles zu kribbeln begann.
Die ersten paar Meter schwiegen wir, wobei ich angestrengt auf den See starrte und er auf den Boden.
"Wie geht es deinem Bruder?" Ich war froh, dass Jenson den ersten Schritt in Richtung einer normalen Unterhaltung gemacht hatte. Sonst wäre es ja auch zu peinlich geworden.
"Ben? Dem gehts super. Er war gerade in Japan für die Promotion seines neuen Films. Eigentlich wollte er mit zum Grand Prix, aber genau an dem Tag war eine wichtige Talkshow, und Ben hasst es seine Fans zu enttäuschen."
Jenson blinzelte in die blasse Sonne, die von einer dünnen Wolkenschicht verdeckt war. "Ben ist so ein guter Mensch. Das erkennt man wie er mit seinen Fans umgeht. Viele Stars wissen nicht, dass die Fans der Grund sind, warum sie es überhaupt zu etwas gebracht haben. Sie halten ihren Erfolg für selbstverständlich und beachten ihre Fans kaum." Er sah mich an. "Das ist abgrundtief falsch. Und Ben ist wirklich genau das Gegenteil. Du kannst stolz auf ihn sein."
"Das bin ich", flüsterte ich heiser. "Glaub mir, das bin ich."
Jenson lächelte schief. "Erzähl mir ein bisschen was über dich."
Ich grinste nervös. "Über mich? Da gibt es nicht viel zu sagen."
Jenson war stehengeblieben und sah mich nachdenklich an. "Das bezweifle ich. Erzähl einfach das, was dir in den Sinn kommt."
Das war leichter gesagt als getan. Ich hatte irgendwie Angst, dass Jenson mich für komisch halten würde.
"Okay, also..." Ich zögerte, doch dann gab ich mir einen Ruck. "Ich liebe Filmmusik. Sie ist wahrscheinlich mein Lieblingsgenre. Besonders die von Rush." Ich holte Luft. "Ich bin allergisch gegen alle Nüsse, was mich sehr aufregt, weil ich früher Erdnussbutter geliebt hab. Mein zweiter Name ist Elizabeth, nach der Königin. Schrecklich, ich weiß. Ich hab das seltene Talent, jeden Wecker zu verschlafen." Jenson grinste und bedeutete mir mit einer Geste fortzufahren. "Mein Lieblingsrennstall ist McLaren, aber mein Lieblingsfahrer ist Sebastian Vettel." Ich sah, wie Jenson mich gespielt beleidigt ansah, bevor er mich unterbrach. "Wer ist dein Zweitlieblingsfahrer?" Ich ahnte, welche Antwort er sich erhoffte, doch so leicht würde ich es ihm nicht machen. "Ähm, das ist schwer. Entweder dieser Nico Rosberg, oder ein gewisser Brite, der mich dazu zwingt, alles von mir zu erzählen."
"Tja, ich bin nunmal sehr neugierig. Eine meiner wenigen Schwächen." Ich grinste in mich hinein.
"Wenig?"
"Hast du was gesagt, Jenna Elizabeth?" Sein Lächeln vertiefte sich. Ich boxte ihm in den Arm.
"Wag es ja nicht, diesen Namen für mich zu benutzen, Jenson Alexander Lyons."
Jenson schnaubte. "Bitte nicht. Machen wir einen Deal. Keine zweiten Namen, okay?" Er hielt mir seine Hand hin.
"Okay", erwiderte ich mit einem Lächeln und schlug ein. Wieder faszinierte mich die unglaubliche Weiche seiner Haut. Weich, aber rau.
"Du kannst mich jetzt wieder loslassen", erwiderte Jenson belustigt. Ich wurde rot und ließ seine Hand so plötzlich los, als hätte ich mich verbrannt.

AerodynamicsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt