| 02. PERCEPTION

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Kühler Wind, bewölkter Himmel aber kein Regen. So war das Wetter direkt über der Rennstrecke in Suzuka. Ich zog meinen Mantel fester um mich, als ich den geschützen Bereich unter der VIP Lounge verließ. Das Rennen würde in Kürze anfangen, denn die Rennautos hatten sich schon in Position gebracht, jedes auf eine Makierung. Die letzten Wochen hatte ich mit sehr viel Formel 1 Wissen angereichert, und ich hatte kein Rennen und keine Quali verpasst. Man konnte sagen, ich war zu einem Formel 1 Fan mutiert.
Benedict hatte einen Promotiontermin in Tokyo und ich hatte diese Gelegenheit genutzt, einfach mal einen Grand Prix live und in Farbe mitzuerleben.
Ich stand allein auf dem abgewetzten Rasen vor dem Zaun, der die Rennstrecke von dem Zuschauerbereich abtrennte. Die Japaner wollten sich den Startlärm anscheinend nicht antun, aber mir war das nur recht. So konnte ich den kurzen Moment vor dem Start in Ruhe genießen. Während meiner Ich-lern-jetzt-alles-über-Formel-1-Phase, hatte ich gelesen, dass der Start das Wichtigste für das gesamte Rennen sei. Wenn man den verbockte, hatte man schwere Chancen, das Rennen gut abzuschließen.
Das Dröhnen der Motoren wehte zu mir herüber und ich konnte beinahe das ganze Adrenalin spüren, dass diesen Fahrern durch ihr Blut rauschte.
Drei, zwei, eins...
Der erstplatzierte Deutsche Sebastian Vettel legte einen super Start hin, während sein Teamkollege Mark Webber von einem McLaren abgedrängt wurde. Er verlor seine zweite Position an entweder Jenson Button oder Sergio Perez, was ich nicht so richtig erkennen konnte, da die Autos inzwischen alle um die Kurve verschwunden waren. Jetzt blieb mir wohl nichts anderes übrig, als das Rennen von einem der Flachbildfernseher in der VIP Lounge weiterzuverfolgen.
Spannend, spannend. Vor allem der Start dieses McLaren war echt genial gewesen.
Ich stieg die Treppen zum Terrasseneingang der Lounge hoch, und ich war noch nicht ganz oben angekommen, als die Autokolonne das zweite Mal um die Ecke über den Start bog. Die Autos fuhren so schnell, dass ich nur Schlieren anstatt klaren Umrissen erkennen konnte.
Dunkelblau, rot, silber. Das waren zumindest einmal die ersten drei.
Dunkelblau war Red Bull Racing mit Sebastian Vettel, dann silber war Mercedes, während ich mir beim Rot nicht mehr so sicher war.
War es eher Ferrari-Rot oder McLaren-Rot gewesen?
Bevor ich lange nachgrübelte, ging ich lieber zur Bar und verschaffte mir Gewissheit.
Auf allen Fernsehern lief die Wiederholung vom Start und der BBC-Moderator, kommentierte alles ganz genau.
"Sehen Sie noch einmal den sensationellen Start von Jenson Button, der innerhalb von wenigen Sekunden mehrere Plätze gewonnen hat."
Die kurzen Sekunden vorm Start wurden noch einmal gezeigt, diesmal aus der Sicht von Jenson Button selbst. Er stand in siebter Position, und kaum war das Startsignal ertönt, schoss er an Fernando Alonso und Kimi Räikkönen vorbei, die vor ihm standen. Nico Rosberg und Lewis Hamilton fielen seiner unwillkürlichen Attacke ebenfalls zum Opfer und dann wurde das gezeigt, das ich mit eigenen Augen dort unten gesehen hatte. Jenson Button überholte mit einer nie gesehenen Eleganz den anderen RBR und war dann somit auf zweiter Position gelandet. In der Lounge hielten sich sehr viele reiche Briten auf, die wahrscheinlich jedem Grand Prix  hinterherreisten. Diese brachen in Jubel aus, als ihr Landsmann mit einem Auto aus ebenfalls ihrem Land, dieses intelligente Überholmanöver hinlegte.
Nun wurde wieder live gezeigt und ich ging schnell an die Bar um mir etwas zu trinken zu holen.
Mit größtem Geschick balancierte ich meinen Martini und die Schüssel eingelegte Oliven zu einem der Tischchen, direkt vor dem Fernseher.
Alles in der Lounge war ziemlich europäisch eingerichtet und auch die Getränkekarte enthielt nur Erfrischungen aus der westlichen Welt.
Mir war das nur recht, denn ich hatte keine Lust, dass ein Skorpion oder anderes ekeliges in meinem Martini schwamm.
Oh, jetzt wo ich mal drüber nachdachte...
Möglichst unauffällig durchsuchte ich den Inhalt meines frisch erworbenen Aperitifs, als eine arrogante Stimme an mein Ohr drang.
"Also ich finde das alles so schrecklich langweilig...", lamentierte sich eine junge, sehr fein angezogene Frau, weiter hinten, so weit weg vom Fernseher, wie es nur irgendwie ging.
Sie war zweifellos sehr schön, aber sie hatte etwas, das mir nicht gefiel. Um ihren Mund lag so ein bitterer Zug, als würde sie sich schon ihr ganzes Leben über den lauten Motorsport aufregen. Und irgendwie kam sie mir sehr bekannt vor.
Sie war umringt von anderen, ebenfalls gut gekleideten Damen, die offenbar ihr Fußfolk waren. Fast alle waren asiatischer Herkunft, selbst ihre Anführerin hatte leicht mandelförmige Augen.
"Finde ich auch!", pflichtete ihr sofort eine blond gefärbte Japanerin bei. "All dieses sinnlose Aufheben, dass sie um ein paar laute Autos machen, die nur im Kreis fahren."
Unwillkürlich ballte ich meine Hand im Schoß zusammen. Diese aufgedonnerten Tussis hatten doch nicht den blassesten Schimmer, worum es bei Formel 1 ging.
Das waren keine "sinnlosen Runden im Kreis" das war Sport! Genauso so sinnfrei oder voll wie jeder andere.
Da meldete sich eine andere von den Untertanen zu Wort.
"Solltest du nicht in der McLaren Box sein, Jessica?"
Jetzt wurde mir klar, wer diese unsägliche Jammergurke war.
Das war Jessica Michibata, Jenson Buttons Freundin! Das sie es wagte, sich so abfällig über den Job ihres Freundes zu äußern, fand ich ungeheuerlich.
Ich musste mich beherrschen nicht aufzuspringen und ihr meine Meinung ordentlich ins Gesicht zu sagen.
Jessica kicherte affektiert. "Ich hab gesagt, ich hab Kopfschmerzen und kann deswegen nicht so nahe am Motorenlärm sein und sie haben mir alle geglaubt."
Seit den Beginn des Rennens hatte sie vermutlich noch kein einziges Mal zu dem Fernseher geguckt. 
Das war wahrscheinlich unter ihrer Würde.
Inzwischen waren mehrere Runden vergangen und Jenson hatte einen Platz an Mercedesfahrer Nico Rosberg verloren. Sebastian Vettel hatte die übrigen mal wieder abgehängt, und fuhr seelenruhig seine Runden vor sich hin.Kaum hatte ich den Martini ausgetrunken, stand ich auf und suchte mir einen anderen Platz weit weg von diesen Ignorantinnen.
Das Rennen verlief die restliche Zeit relativ unspektakulär, es änderte sich kaum mehr was in den Positionen. Fernando Alonso flog in einer Kurve raus, und rammte dabei Daniel Ricciardo, von Toro Rosso.
Irgendwie freute ich mehr sehr, als Jenson Button als dritter über die Ziellinie kam. In letzter Zeit war es für ihn nicht so gut gelaufen und er war oft nicht mal in die Top Ten gekommen. Schön zu sehen, das jede Pechsträhne mal ein Ende fand.
Sobald das Rennen beendet war, wurde alle Türen für die billigeren Ränge geöffnet und die Fans strömten auf die Piste. Die ganze Rennstrecke, auf der nur Minuten zuvor noch Autos mit enormer Geschwindigkeit gefahren waren, war nun überflutet mit winzigen Pünktchen, in verschiedenen Farben.
Die Gäste in der VIP-Lounge wurden durch einen mit Samt ausgeschlagenen Gang zu einer erhöhten Plattform durchgeleitet. Nur kurze Zeit später betraten die ersten drei Fahrer den Podest.
Ich hatte Jenson schon ewig nicht mehr gesehen, eigentlich genau seit dem Tag der Premiere. Nun war er bloß fünf Yards von mir entfernt. Ich konnte beinahe jedes Detail an ihm erkennen, von den winzigen Sommersprossen auf seiner Nase bis hin zu seinem euphorischen Lächeln.
Viel zu schnell verschwanden sie nach drei kurzen Interviews wieder durch die kleine Tür am Rande der Podestplattform.
Wie gut, dass mein Bruder mir auch den VIP-Ausweis spendiert hatte, mit dem ich frei in der Pit-Lane herumspazieren konnte. Die älteren Engländer, die ebenfalls in der VIP-Lounge gewesen waren, machten sich auf den Weg zum Ausgang, wo sie von Hubschraubern wahrscheinlich zu ihren Privatjets geflogen wurden.
Jessica Michibata und ihre Freundinnen stöckelten den Gangway hinunter zur Boxengasse. Ich folgte ihnen mit einigen Abstand und besah mir alle Boxen von innen. Keinem der Teammitglieder schien meine Anwesenheit zu stören, da ich auch wirklich ruhig blieb und die noch dampfenden Autos nicht berührte. Bei Williams traf ich sogar auf einen der Fahrer, den Finnen Valtteri Bottas. Er war in ein Gespräch mit seinem Teamchef vertieft und sah nicht mal auf, als ich sein Auto begutachtete.
Die Red Bull Racing Box klapperte ich erst gar nicht ab, denn davor hatte sich eine riesige Menschentraube gebildet. Offenbar gab einer der Fahrer dort Autogramme.
Bei Mercedes war keiner der Fahrer anwesend, dementsprechend wenig Andrang herrschte dort.
Die beiden Silberpfeile standen dort und wurden von zwei Serviceleuten mit kaltem Wasser gereinigt.
Letzten Endes kam ich zur McLaren Box. Zu meiner großen Überraschung stand dort niemand Geringeres als Jenson Button. Er hatte den Arm um Jessica gelegt, und gab ein Interview. Seine Freundin hatte das freundlichste Lächeln aufgesetzt und wirkte so sympathisch.
Wie Schein nur trügen konnte.
Kaum war der Reporter verschwunden, legte Jessica ihr Grinsen ab, wie eine Sonnenbrille.
"Jenson, beeil dich bitte! Ich will heute noch zu dieser Boutique in der Innenstadt und die macht bald zu." Ihre Stimme klang zwar sehr sanft, aber ich konnte die Ungeduld darin heraushören.
"Klar, Jess. Geh schon mal vor, ich muss noch mit Sergio sprechen."
Er lächelte sie so liebevoll an, dass sich mir der Magen umdrehte. Jessica verdiente ihn nicht!
Jessica lächelte triumphierend und schritt dann aus der Box, als sei die auf einem Laufsteg und nicht auf einer Rennstrecke.
Ich blieb in einiger Entfernung von Jenson stehen und beobachtete wie er sein Auto schnell auf irgendwelchen Schaden begutachtete. Sein Gesichtsausdruck war hochkonzentriert, und ich fragte mich, ob er auch so während eines Rennen aussah. Offenbar schien er nichts zu bemängeln zu haben, denn er richtete sich mit erfreutem Lächeln auf, bevor er in meine Richtung sah. Ich wollte mich gerade hinter einem der Teamcomputer verstecken, doch es war zu spät. Jenson hatte mich bemerkt, und er runzelte die Stirn. Er schien sich zu fragen, woher er mich kannte. Dann, nach einer Ewigkeit, schien es ihm zu kommen.
"Jenna, richtig?" Ich nickte stumm.
"Du bist Benedicts Schwester, oder?" Wieder bejahte ich. Unsere letzte Begegnung war so peinlich gewesen. Ich hoffte so sehr, dass er es vergessen hatte.
"Jetzt weißt du anscheinend, wer ich bin." Verdammt! Er hatte es kein bisschen vergessen.
"Ja...", antwortete ich peinlich berührt. "Gutes Rennen heute."
Jenson grinste schwach. "Die Aerodynamik hat ein wenig gehapert. Vor allem das DRS." Er hielt inne. "Aber was erzähle ich dir da... Du hast ja sowieso keine Ahnung von Formel 1."
Was hatte der bloß für Probleme? Ich setzte gerade zu einer scharfen Antwort an, doch er winkte ab.
"Lass stecken, Jenna. Ich hab jetzt keine Zeit für dich!"
Ohne sich zu verabschieden, drehte er sich um, und ließ mich dort neben seinem Auto stehen.
Der Typ hatte ja ein noch größeres Ego, als manche Schauspielfreunde meines Bruders.
Ich hatte mich geirrt. Jessica verdiente ihn so was von...

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