Prolog

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Der Mensch braucht Flügel.

Und manchmal, manchmal suchen wir sie mit allem, was wir haben. Manchmal verlieren wir uns selbst in der Illusion, dass sich Fallen wie Fliegen anfühlt, für eine begrenzte Zeit. Denn Fallen tut nie weh, und die Tatsache dass wir uns spiralförmig nach unten und niemals, nie in eine andere Richtung bewegen, ignorieren wir mit solchem Bestand, dass wir uns selbst überzeugen. Es ist verblüffend, denn eigentlich wissen wir, dass wir uns um zu Fliegen in die Luft erheben müssen, dass wir nicht fliegen ohne den Wind und die Freiheit. Aber an dunklen Tagen, an denen wir unsere Flügel überall, wirklich überall suchen, wählen wir den Fall. Wenn wir die Augen schließen, merken wir den Unterschied auch gar nicht: Der Wind zieht an uns vorbei, die perfekte Imitation. Und unfassbarerweise je schöner, je tiefer wir fallen: Umso länger fliegen wir. Umso freier sind wir, scheinbar. Aber wir wissen es von Anfang an, dass wir nicht nachgeben dürfen, um uns vor Schmerzen zu bewahren, schließlich navigieren wir uns nicht erst seit gestern durch dieses Leben. Wir wissen das. Wir alle wissen es. Und dann schließen wir die Augen, und wir stellen uns vor wie es sich anfühlt wenn sich die kühle Endlosigkeit um einen schließt und einen nie mehr loslassen will. Manchmal fühlt sich Fallen wie Fliegen an, wenn die Illusion stark und wir einsam genug sind. Weil wir es so verzweifelt wollen, dass wir unsere Realität umbauen, und das Meer zum Himmel wird. Und nach unserem Tiefenrausch, nach all diesem intensiven Leben, wenn wir mit kalter, blasser Haut knapp über dem Meeresboden schweben und unsere Augen starr in die Leere blicken, dann fragen wir uns klammheimlich, wieso wir eigentlich glauben, dass wir niemals Fliegen können. Weshalb wir uns immer wieder in die Tiefe stürzen, weshalb wir dermaßen überzeugt sind, dass unser Traum vom Fliegen auf keinen Fall wahr werden könnte. Denn irgendwann, zu irgendeinem Zeitpunkt, endet das scheinbare Fliegen und wir prallen auf den Grund auf. Und es wird schrecklich schmerzen, so sehr dass wir uns wünschen niemals den Sprung gewagt zu haben.

Wie sich Fliegen anfühltWo Geschichten leben. Entdecke jetzt