Hochhausblick

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"Hallo Anouk", Dr. Majewski hatte sich aus seinem Stuhl erhoben als Anouk zur Tür hineinkam.

"Guten Tag", sprach sie mit gebrochener Stimme.

"Es ist Morgen, Anouk", bemerkte der Therapeut und schaute auf die Wanduhr über der Tür.

Tick, Tock, Tick, Tock - es war ohrenbetäubend, irritierend, ja beinahe provozierend.

"Dein Vater hat mir schon von deinen Beschwerden erzählt. Die Tabletten wirken nicht mehr, hm?", Dr. Majewski hatte es sich mit einem lauten Seufzen wieder auf seinem Stuhl bequem gemacht, während Anouk völlig abwesend auf die Couch gegenüber von ihm zuging und sich langsam darauf niederließ.

"Halluzinationen, Wahnvorstellungen, kreisende Gedanken", er ging mit dem Stift in seiner linken Hand über seinen Notizblock in der rechten Hand.
"Er hat mir sogar was von Verfolgungswahn erzählt."

Der Therapeut nahm die Brille ab und blickte zu Anouk herüber.

Sie sprach keinen Mucks, kein Ton kam über ihre Lippen. Und nur das ständige Tick, Tock, Tick, Tock unterbrach das Schweigen.

Sie fixierte sich auf den Spiegel hinter dem Mann und schielte an jenem sogar vorbei.
Dabei erkannte sie einen kleinen Teil ihres Spiegelbildes, aber eher noch den Hinterhof des Hochhauses, in dem sich die Praxis befand.

Nur zwei kleine Kinder spielten gegenüber auf dem Balkon mit einem Ball und eine Taube flatterte emsig durch die Luft, immer wieder mit voller Kraft gegen den starken Wind an.

"Anouk?", der Therapeut warf ihr ein freundliches Lachen zu. Ihre Augen konzentrierten sich wieder auf sein Gesicht und sie ließ das, was sich hinter dem Haus abspielte, aus ihren Gedanken verschwinden.

"Soll ich mehr Tabletten nehmen?", fragte sie etwas unzusammenhängend.

Dr. Majewski wurde stutzig. "Mehr?", erwiderte er, "Willst du dich umbringen? Um Gottes Willen. Bloß nicht mehr als die vorgeschriebene Dosis. Immerhin haben wir sie beim letzten Mal schon erhöht." Er schüttelte den Kopf.

"Es tut mir leid, ich hatte nicht die Intention irgendetwas in diese Richtung anzudeuten", erklärte Anouk langatmig und monoton.

Sein Blick verwandelte sich von Gutmütigkeit in blankes Misstrauen. "Woran ich dachte, war mehr ein Wechsel. Du nimmst Chlorpromazin, also musst du dir keine Sorgen machen, ist sowieso nur ein mittelmäßiger Wirkstoff", das Wort 'mittelmäßig' betonte er mit einer gewissen Abschätzung. "Wir versuchen es lieber mal mit Risperidon."

Anouk konnte mit den Namen wenig anfangen und wusste nur, dass es sich dabei um Neuroleptika handelte, die ihre morgendliche Migräne bedingten und für das stete Gefühl der Taubheit sorgten, sowohl physisch als auch emotional.

Während Dr. Majewski zu seinem Computer herüberlief und ein Rezeptformular ausfüllte, schaute seine Patientin ein weiteres Mal in den Spiegel hinter dem Stuhl des Therapeuten.

Sie erkannte nicht nur sich selbst, etwas eingefallen mit überschlagenen Beinen auf der Couch sitzen, sondern auch die Taube, die scheinbar auf der Stelle flog. So sehr sie auch mit den Flügeln flatterte, sie kam nicht voran. Vielleicht wirkte es auch nur so und sie kämpfte sich stückchenweise immer weiter vorwärts, ohne dass es Anouk auffiel.
Ein tapferes, kleines Wesen, das niemals aufgab seine Ziele zu erreichen. Manchmal wünschte sich auch Anouk sie könnte mit Mut und Ehrgeiz der Welt entgegentreten, aber sie war mehr wie ein Murmeltier, das sich in seinem Bau vergrub.

Die Taube flatterte, flatterte, flatterte. Nichts konnte ihrem Ehrgeiz Abbruch tun, aber genauso wenig half ihr irgendetwas von der Stelle zu kommen. Ihre Anstrengung nahm kein Ende.
Und da war es plötzlich. Als hätte jemand durch Fremdeinwirkung die Taube aus ihrer Position gegriffen und woanders platziert.
Nicht einmal einen Wimpernschlag hatte es gedauert und sie war spurlos verschwunden.

Irritiert suchte Anouk mit ihren Augen die Umgebung ab, drehte sich sogar herum, um direkt aus dem Fenster zu sehen. Es riss sie geradewegs von der Couch. Auf dem Balkon spielten noch immer die Kinder. Sie mochten gerade einmal um die 10 Jahre alt sein.
Was die junge Frau aber mehr beunruhigte als kleine Kinder, die an einem rostigen alten Geländer eines Balkons im vierten Stock Ball spielten, war der Ball selbst.
Es war nämlich keiner oder besser gesagt keiner mehr.

Das hieß natürlich nicht, dass der Ball verschwunden war, im Gegenteil.
Er war rund und knallig rot wie eh und je. Anouk störte eher, dass er einen kleinen Ausflug unternommen hatte.
Er war unbeweglich, unberührt, ungewöhnlich ... und hatte sich überlegt nicht mehr mit den Kindern zu spielen und stattdessen dem Himmel nachzueifern.

Dort, wo zuvor die Taube ihre Sisyphusarbeit verfolgt hatte, schwebte der kugelrunde, rote Ball über den Hochhäusern.
Man mochte sich einbilden - und auch Anouk hoffte innig - dass er wieder herunterfiel, wie es die Schwerkraft für ihn vorgesehen hatte, aber da war das Kinderspielzeug aus Gummi wohl anderer Meinung.

Anouk fand dies zwar eigenartig, aber noch lange nicht so verstörend wie das Bild, das ihr die spielenden Minderjährigen boten.
Tick, Tock, Tick, Tock - die beiden Kinder warfen sich im Rhythmus der Uhr

... die erstarrte Taube zu.

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