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Kalt geduscht und daher frierend sitze ich auf der Rückbank des Opel Corsas meiner Mutter. Es ist Mitte Oktober und die Blätter färben sich langsam braun und rot. Ich liebe diese Jahreszeit. Im Sommer ist mir zu warm, im Winter zu kalt und der Frühling weckt meine Pollenallergie. Ich bin ziemlich empfindlich. Meine Mutter hält das Lenkrad fest in ihren Händen und rast durch die Nacht. Sie fährt so schnell, dass ich fast schon Angst habe.
Das letzte mal ist so gefahren als ich mir die Pulsadern aufgeschnitten habe und sie mich ins Krankenhaus gefahren hat. Das ist acht Monate her. Sie redet nicht mit mir. Das tut sie sonst immer wenn ich einen „Anfall" habe, wie sie es gerne nennen. Aber dieses mal hascht ihr Blick nur ab und zu in den Rückspiegel und Ihr Augen finden meine. Verdammt Mama, rede mit mir. Ich brauche dich.

Meine Mutter und ich haben eigentlich eine tiefe Bindung, da wir eigentlich nur uns haben. Meine Mutter bekam mich mit vierzehn und meine Vater hat sie verlassen, als sie ihm von der Schwangerschaft erzählte. Ich kann ihm nicht böse sein, er war ja selber erst sechzehn. Aber ich frage mich oft wie es ihm geht. Vielleicht hat er drei Kinder mit einer anderen Frau bekommen und sie leben in einem großen Haus mit Garten und Hund. Vielleicht ist er auch tot. Meine Mutter redet nicht über ihn. Sie sagt nur immer, sie waren jung und dumm.

Leise rieselt der Regen auf das Dach des Opels und bei dem Geräusch bin ich schon fast vorm einschlafen, doch meine Mutter rast so um die Kurven, dass mein Kopf in unregelmäßigen Abständen gegen die Fensterscheibe schlägt. Vielleicht werde ich ja ohnmächtig?

Der Raum riecht nach Kernseife und Salbei. Ich könnte kotzen. Meine Mutter hat ihr 19 Euro Tasche auf ihrem Schoß und wippt ungeduldig mit ihren Knien rum. Das macht mich verrückt. Hör auf! Eine Frau, Mitte vierzig würde ich schätzen, kommt in den Raum. Ihr Haare hängen ihr schlaff auf den Schultern, sie hat einen hochgeschnittenen lange Rock an, der bei ihren Knöcheln endet. Ihr top ist in jeglichen Farben des Regenbogens. Sie würde sich selber als flippig bezeichnen. Da bin ich mir sicher.
„Guten Abend.", sie schenkt mir ein Lächeln und nickt meiner Mutter zu. Sie setzt sich auf den ausgefransten Ledersessel und jetzt trennen uns noch noch Welten, Gehaltsklassen und dieser hässliche kieferntisch.
„Ich bin Doktor Schmidt. Und wir haben telefoniert?"
Meine Mutter nickt.
„Nun ja, am Telefon waren sie sehr aufgebracht. Ich habe leider nicht viel verstanden. Charlie, möchtest du uns erzählen was vorgefallen ist?"
Ich sehe mich in dem ziemlich kleinen Büro um. Die Wände sind in einem cremigen gelb und die Fenstervorhänge in einem grellen lila. Es sieht schrecklich aus. An den Wänden sind selbstbemalte Leinwänden, auf den Sachen stehen wie:"Du musst den Regen ertragen um den Regenbogen zu sehen".
„Wo soll ich da anfangen?", meine Stimme ist immer noch nicht da. Sie ist sehr kratzig. Ich habe aber auch laut geschrien.
„Ich weiß gar nicht was ich hier soll. Ich sollte zur Polizei und eine Anzeige stellen.", ich knete meine Finger und schaue zu meiner Mutter. Ihr Augen sind ganz glasig und sieht sieht Doktor Schmidt schon fast flehend an.
Frau Schmidt kritzelt irgendwas mit.
„Warum solltest du eine Anzeige stellen?", sie sieht mich mit ihren haselnussbraunen Augen an und ich habe das Gefühl sie will mich aussaugen.
Ich richte meinen Blick wieder auf meine Finger.
„Ich werde gestalkt."
Meine Mutter stöhnt auf und ihr fallen Tränen auf ihre Wangen.
„Charlie, verdammt nochmal!", sie schlurzt und packt meinen Arm. „Was stimmt mit dir nicht, Kind?"
Sie kneift mir so feste in den Arm, dass ich diesen nicht mehr an mich reißen kann und mich zum weinen bringt. „Mama! Du tust mir weh! Lass mich los!"
Meine Mutter lässt meinen Arm fallen und mein Ellbogen knallt auf die Lehne meines Stuhles. An meinem Arm sind kleine Tiefe einbuchtenden ihrer langen, spitzen Fingernägel. Meine Mutter und ich machen uns gegenseitig kaputt. Weil sie einfach nicht versteht!
Doktor Schmidt schreibt wie von der Tarantel gestochen auf ihrem Block rum. Unbeeindruckt von unserer Szene sieht sie mich an.
„Draußen steht ein Kaffee Automat, möchtest du dir nicht einen holen? Wir reden dann später."
Wütend stehe ich auf und knalle die Tür hinter mir zu. Sie lassen mich nie mit reden. Keiner hört mir zu.

Ich lehne mich an die Wand im Flur und lasse mich auf den Boden fallen. Ich kann nur ahnen worüber sie reden werden. Nimmt sie ihr Medikamente? Die scheiß Teile nehme ich nicht. Davon bekomme ich Muskelkrämpfe.
Mein Blick schwingt nach rechts und dann nach links. Der Flur ist in einem kühlen weiß gestrichen und die Wände kahl. Ich versuche mich auf meine ausgelatschten Sneaker zu konzentrieren. Die Teile habe ich seit ich fünfzehn bin. Ich bin tatsächlich seit mehr als zwei Jahren nicht mehr gewachsen. Das kann am rauchen liegen. Die Schuhe habe ich zum Geburtstag bekommen. Ich trage sie täglich, weil es die einzigen Schuhe sind die ich besitze, die nicht nach Armut aussehen. Eigentlich bin ich nicht so oberflächlich, aber in der Schule bin ich so wie so schon ein Außenseiter, da muss ich nicht auch noch wegen meinen Anziehsachen ausgelacht werden.
Erst jetzt fällt mir auf, dass ich so gut wie nackt bin. Außer meinen achtzig Euro Schuhen trage ich nur eine kurze Schlafhose, einen viel zu großen BH und eine Wolldecke, die meine Mutter mir umwickelte nachdem sich mich aus der eiskalten Dusche geholt hat.

Nach gefühlten Stunden werde ich von Doktor Schmidt wieder ins Büro gebeten und meine Mutter verschwindet dafür auf den Flur.
„Weiß du was das ist, Charlie?", Doktor Schmidt hält einen gut gefüllte Ordner hoch, woraufhin ich nur meinen Kopf schüttle.
„Das ist deine Krankenakte.", sie leckt sich ihren linken Zeigefinger an und zieht einen der Zettel raus.
„Du wurdest vor acht Monaten ins Krankenhaus eingewiesen. Kannst du mir erzählen warum?"
Warum fragt sie mich das? Das steht da doch! Ich hasse diese Psychologen Tricks.
„Weil ich mich geschnitten habe."
Sie runzelt die Stirn und fängt an vor zu lesen.
„Die Patientin wurde mit schweren Verletzungen an beiden Handgelenken, von ihrer Mutter, in die Notaufnahme gebracht. Die Patientin wird als stark Suizidgefährdet eingestuft ."
Doktor Schmidt steckt den Zettel zurück in die Akte.
„Du hast dich nicht nur geschnitten. Du wolltest dich umbringen. Kannst du mir sagen warum?"
Mir schießen direkt die Tränen in die Augen. Ich erinnere mich nicht gerne daran. Ich habe mir einfach meine Rasierklingen geschnappt und es getan. Ich wollte und kann nicht so leben. Ich kann nicht leben mit dieser Angst. Ich habe es nur nicht noch einmal versucht, weil meine Mutter so verdammt laut geschrien und geweint hat, als sie mich fand. Ich weiß bis heute nicht warum sie nicht den Krankenwagen gerufen hat, sondern selber gefahren ist.
„Ich kann so nicht leben."
Die Frau lässt mir keine Ruhe und stochert tiefer. „Wie kannst du nicht leben?"
„Mit dieser Angst, vor diesem Mann.", meine Sicht verschwimmt als sich die Tränen stauen.
„Er verfolgt mich und droht mir.", meine Stimme ist nur noch ein Schlurzen.
Frau Schmidt packt sich an die Schläfe.
„Du weißt aber warum du jetzt hier sitzt und nicht bei der Polizei?"
Ich nicke. Ja, weiß ich. Mir glaubt keiner, sie denken ich bin verrückt.
„Charlie, du leidest an Schizophrenie. Verfolgungswahn ist ein klares Zeichen dafür. Warum nimmst du deine Tabletten nicht?"
„Weil ich nicht krank bin, ich werde wirklich verfolgt!", seit verdammten drei Jahren muss ich dieses Gespräch immer und immer führen. Meine Angst wandelt sich in Wut um.
„Sie müssen mir helfen! Rufen sie die Polizei! Bitte!"
Frau Schmidt greift unter ihren Tisch, woraufhin zwei Männer, das eh schon zu kleine Büro, betreten.
„Wir werden dir helfen. Du wirst hier gut therapiert werden.
Irritiert sehe ich erst den Doktor und dann die Männer an, die beide einen weißen Kittel tragen.
„Therapie? Ich brauche keine Therapie! Ich brauche Hilfe! Ich muss zur Polizei!" ich springe vom Stuhl auf, woraufhin beide Männer jeweils einen Arm von mir packen.
„Nein! Lasst mich los! Lasst mich verdammt nochmal los!"
Frau Schmidt geht um ihren Tisch herum und stellt sich mit Abstand vor mich.
„Wir werden dir helfen, es ist wirklich nur zu deinem Besten. Bringt sie bitte auf ihr Zimmer."
Die Männer heben mich leicht hoch, woraufhin ich anfange nach Ihnen zu treten, was sie allerdings unbeeindruckt lässt.
„Lasst mich los!", einer meiner Tritte trifft das Schienbein einer der beiden Männer, woraufhin er mich los lässt und brüllt. Ich schaffe es auch meinen zweiten Arm loszureißen, woraufhin ich allerdings meine Decke verliere und nur in BH und Hose in den Flur renne. Im Flur laufe ich direkt in den Arm meiner Mutter. Ich kralle mich an sie.
„Hilf mir! Verdammt, bitte! Tu mir das nicht an, Mama!",
meine Mutter weint und versucht mich wegzuschubsen, was ihr allerdings nicht gelingt. „Charlie, bitte!", weint sie.
In meinem rechten Oberarm merke ich einen kleinen Stich, woraufhin ich meine Mutter direkt loslasse. Meine Knie werden weich und meine Augen schwer. Von zwei Händen werde ich aufgehalten den Fußboden zu küssen.
„Mama.", war das letzte was ich sagen konnte bevor alles schwarz wurde.

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