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Mein Herz pocht mit jedem Schritt schneller. Auch das atmen fällt mir immer schwerer.
Meine Beine fühlen sich wie zwei schwere Klumpen an, die einfach nur an meinem Oberkörper hin und her baumeln. Und ja auch mein Gehirn schreit 'Stopp. Aufhören. Keinen Schritt weiter.'

Tja. Ich sollte vermutlich echt mehr Sport machen. Allein die vierzig Treppen, die vom Keller bis zu der Dachterasse unserer Schule führen, machen mir ziemlich schwer zu schaffen. Doch ich sehe tatsächlich einen kleinen Sonnenstrahl am Ende des Treppenganges.

Schließlich öffne ich die kleine Dachluke und krieche durch den schmalen Spalt.
Warum hat meine Schule überhaupt eine scheiß Dachterasse? Ich meine wir sind doch nicht in Amerika!

Aber die Schulleitung meinte, es wäre ja eine super moderne Idee eine echte Dachterasse auf dem Dach unserer Schule zu errichten. An sich auch eigentlich ganz toll, wäre nicht die Tatsache, dass sie seit ca eineinhalb Jahren daran bauen und man sie nur zum Abstellen von diversen Geräten nutzen kann.

Auf der Lippe kauend sehe ich mich um, als ich mich endlich aus diesem scheiß engen Fenster gequetscht habe. "Wo ist denn jetzt dieses Häuschen?", murmel ich leise und mustere mit zusammen gekniffenen Augen die Umgebung.

Doch dann erstarre ich. Eine mittelgroße, athletische Silhouette steht am Rand des Schuldaches. Meine Kehle wird schlagartig trocken und mein Herz beginnt plötzlich wieder zu rasen, nur noch viel schneller.

Nach kurzem erstarren merke ich wie die Gestalt ein wenig taumelt und bin wieder im Hier und Jetzt. "Hey!", schreie ich so laut ich kann und renne zu ihm.
Er dreht sich kurz um. Während meine Beine mich fortbewegen erkenne ich die Gestalt, die gerade dabei ist, sich in die Tiefen zu stürzen.

Nur ein paar Zentimeter hinter ihm bleibe ich schließlich stehen. Aber was sagt man denn jetzt nun? Ich kenne ihn viel zu wenig, um ihm klar zu machen, dass er sich immer auf seine Familie und Freunde verlassen kann.

"Denk doch einfach an die Menschen, die leben wollen." Ja. Das ist mein erster Satz zu einem Menschen, der sich gerade selbst umbringen möchte. Dem Menschen, der heute neu in unsere Stufe kam und der sich vor ca zwei Stunden als Nicolas vorgestellt hatte.

Und irgendwie hatte ich schon da ein mulmiges Gefühl. Wie er da stand.
Neben unserem Deutschlehrer wirkte er so anders. So gefährlich.

Und etwas gesagt, außer ein knappes "Hallo", hat er auch nicht.
Doch ich habe das Gefühl schnell verworfen, auch wenn einige Mädchen aus unsere Stufe in der Pause schon über seine Vergangenheit spekulierten.

Er steht immer noch mit dem Rücken zu mir und sieht in die Tiefe. "Ich kann dir helfen. Also ich meine andere auch. Psychologen zum Beispiel.", stammel ich verunsichert.
Sollte ich einfach seinen Arm greifen und ihm so vor dem Abgrund schützen.

Oder lieber so lange auf ihn einreden bis er freiwillig geht? Ich atme schwer aus und versuche den Schauer über meinen Rücken zu ignorieren.
"Also auch wenn wir uns nicht kennen." Auch die Tränen, die sich in meinen Augen sammeln, versuche ich zu unterdrücken.

"Ich glaube dein Leben ist viel zu wertvoll um es jetzt einfach weg zu schmeißen. Bitte, bitte tu das nicht. Bitte vertrau mir einfach!"
Meine Stimme hört sich mehr schluchzend und schwach, als stark und überzeugend an.

"Du weißt einen scheiß über mein Leben." Überrascht über seine tiefe und feste Stimme, starre ich auf seinen Rücken. Er hat sein Gesicht ein wenig zur Seite geneigt, so dass ich seinen angespannten Kiefer erkenne.

"Ja du hast Recht. Ich kenne dich und dein Leben überhaupt gar nicht. Und ich weiß auch nicht was du durchlebt hast. Aber es liegt jetzt an dir." Ich bemerke wie meine Hände anfangen zu zittern.

Ich spüre wie die Angst, dass er jede Sekunde von dem Gebäude springen könnte, meinen Körper zum schwitzen bringt. "Du hast jetzt die Chance dein Leben zu ändern. Du hast jetzt die Chance dein Leben wieder lebenswert zu machen."

Ein leises Lachen. "Lebenswert? Und was ist wenn alles überhaupt gar keinen Sinn mehr macht? Zu leben." Daraufhin muss ich kurz Schweigen und über seine Worte nachdenken.

So viele Filme und so viele Bücher erzählen davon, wie man Menschen mit Suizidgedanken helfen und retten kann. Und ich stehe jetzt hier rum, bin tatsächlich in so einer Lage und weiß mir, beziehungsweise ihm, überhaupt nicht zu helfen.

"Ich flehe dich an.", sage ich leise schluchzend. "Bitte komm da runter!" Ich höre wie er schlucken muss. Ängstlich stütze ich meine Arme an meinen Hüften ab, als mir plötzlich etwas einfällt.

Ich taste nach meinem Handy, dass sich in meiner Jeansjacke befindet und ziehe es heraus. Warum ist mir das nicht sofort eingefallen? Mit zitternden Fingern versuche ich es zu entsperren.

"Warum ist dir das so wichtig?", höre ich seine dumpfe Stimme, da ich ganz auf mein Handy konzentriert bin. Ich sehe wieder auf und schaue wieder auf das Profil von Nicolas.

"Glaubst du nicht an Schicksal?" Ich zögere kurz, bis ich anfange weiter zu reden. "Hätte der Hausmeister mich vorher nicht noch abgefangen und mir aufgedrängt, dass ich ein paar Zangen für ihn holen müsste, hätte ich dich nie entdeckt. Ich glaube einfach, dass Gott nicht will, dass du springst."

"Ich glaube nicht an Gott!", erwidert er knapp. Schnell blicke ich wieder auf mein Handy und wähle die 110. Immer noch zitternd führe ich das Smartphone an mein Ohr.
"Ich aber.", antworte ich ihm, als mich plötzlich eine Frau an der Leitung begrüßt.

Bevor ich ihr antworte schnaufe ich und mustere Nicolas noch einmal.
"Ja also, hier will sich jemand das Leben nehmen." Sofort dreht er sich um, so schnell dass ich kurz Angst bekomme, dass er unabsichtlich fällt.

Jetzt kann ich sein Gesicht erst sehen. Es sieht starr und wütend aus. Vielleicht aber auch ein wenig verzweifelt. Kurz bemerke ich wie er mich mustert und seine Augen intensiv zu mir starren. "Sag mal spinnst du? Ist das die Polizei?", ruft er mir erschrocken zu.

Ich blicke ihn mit zusammen gezogenen Augenbrauen an und nicke. "Die Adresse, wir brauchen die Adresse!", ruft die Frau ebenfalls laut in das Telefon. Auf der Lippe beißend mustere ich ihn noch einmal.

"Darf ich nicht mal ein bisschen auf dem Dach chillen?" Daraufhin stolpert er ein wenig unvorsichtig von der Kante der Dachterrasse. Mit einem ziemlich festen Griff zieht er meinen Arm geschickt nach unten und hält mich so davon ab der Polizisten den Standort zu verraten.

"Leg auf und vergiss' am besten gerade alles was du gesehen hast, kapiert?"
Er sieht mich mit einem Blick an, der mir Angst macht. Ich spüre wie sich meine Armhaare aufstellen. Doch dann ist der Moment auch schon verblasst und er zischt hektisch an mir vorbei.

Wie versteinert bleibe ich auf der Stelle stehen und höre nur ein leises Tuten, welches von meinem Handy stammt. Je länger ich in die Ferne starre, desto mehr beruhigt sich mein Herz.

Nach kurzer Zeit schaffe ich es endlich mich von dem Abgrund abzuwenden und mich zu der Dachluke zu drehen. Doch Nicolas ist schon spurlos verschwunden. Als wäre das gerade überhaupt nicht passiert.

"Was war das denn?", rede ich leise vor mich hin während ich, mit immer noch zitternden Beinen, zur Treppe eile.

Halt mich festOnde histórias criam vida. Descubra agora