Kapitel 1

4 0 0
                                    

Kapitel 1

Eiskalter Wind huschte über Amalias Gesicht und hinterliess klare Eiskristalle and den Orten, die von ihren Tränen noch feucht waren. Sie zitterte am ganzen Körper und jeder Schritt fühlte sich an, als würde ein Hammer auf ihre steifen Glieder einschlagen. Jede einzelne Bewegung schmerzte bis ins Knochenmark, doch schon der Gedanken an eine Rast konnte sie umbringen. So sehr sie es auch wollte, sie durfte jetzt nicht anhalten. 

Hinter sich hörte sie die Schritte ihrer Verfolger auf dem nassen Boden. Um sie herum schien alles grau. Sie war in einer verlassenen Gegend angekommen, in der sie sich nicht auskannte. Unter anderen Umständen wäre sie bestimmt niemals hierhergekommen. Alles wirkte leblos und hinter jeder Ecke schien eine neue Gefahr zu lauern. Hauswände schimmelten gräulich, Fenster waren eingeschlagen und die Dächer hatten Löcher. Amalia hatte schon viele unschöne Umgebungen gesehen, aber diese versetzte sogar sie in Angst.

Es schüttete wie aus Eimern. Amalias Kleidung klebte an ihrem Körper wie Kaugummi unter einer Schulbank. Das weisse Shirt war mittlerweile komplett durchsichtig. Sie zog sich ihre Jacke noch enger um den Körper, aber es war vergebens. Sie war von Kopf bis Fuss nass. Sogar die viel zu grossen Jeans klebten nun an ihren Beinen und machten jeden Schritt noch unangenehmer. Sie hatte sich noch nie zuvor so unwohl in ihrer eigenen Haut gefühlt. Ihr Leben stand auf dem Spiel und gerade jetzt mussten die Bedingungen für eine Flucht äusserst schlecht sein. Jeder andere Tag wäre ihr lieber gewesen.

«Bleib stehen!» Hinter ihr rief eine raue Stimme immer und immer wieder nach ihr.

Amalia konnte die Stimme nicht identifizieren, aber sie gehörte mit Sicherheit niemandem, der ihr helfen wollte. Es gab niemanden mehr, der sie retten würde. Die Menschen in ihrem zu Hause hatten alle das Gefühl, sie hätte eine schwere Straftat begangen. Sie hatten alle das Gefühl, Amalia wäre eine Mörderin, obwohl dem nicht so war. Unglücklicherweise lasteten starke Beweise auf ihr. Eine Aneinanderreihung dummer Zufälle, die fatale Folgen für Amalia haben könnte.

Sie spürte auf ihrer Haut, wie der Regen noch stärker wurde. Vor ihr verschwamm alles. Allerding konnte sie nicht mit Sicherheit sagen, ob sie die unscharfe Sicht dem Regen oder ihren Tränen zu verdanken hatte. Jedenfalls wurde es immer schwieriger, genau zu sehen, wo sie hinlief. Auf einmal wirkten die Häuser genau gleich wie die Strassen. Sogar der Himmel schien mit dem Rest der Umgebung zu verschwimmen. Sie konnte nichts mehr klar erkennen und ihr wurde immer kälter. Ihre Zähne klapperten aufeinander während sie eine weitere Kurve nahm – Sackgasse. Ein metergrosser Zaun türmte sich vor ihr auf und schnitt ihr den Weg ab. Für Amalia gab es jetzt nur noch zwei Möglichkeiten: Aufgeben, oder den Versuch, den Zaun zu erklettern wagen. Da das Wort «aufgeben» in Amalias Wortschatz nicht vorhanden war, rannte sie direkt auf den Zaun zu und sprang in die Höhe. Ganz kurz bereute sie die Entscheidung. Dann besann sie sich wieder, sie konnte entweder durch aufgeben sterben; oder durch scheitern. Letzteres würde ihr nicht ganz so viel Würde rauben.

Ihr Fuss drohte indessen abzurutschen, aber ihre Hände hatten Halt gefunden. Mühsam zog sie sich in Position, um weiter in die Höhe zu klettern. Innerlich dankte sie sich für das jahrelange Training, das ihr momentan Einiges erleichterte. Das Metall am Zaun war nass und rutschig, Amalia musste jeden Schritt genau planen. Ihr blieb jedoch nicht viel Zeit; die wusste, dass ihre Verfolger hinter ihr waren. Diese hatten keine Scheu, den Zaun ebenfalls zu erklimmen.

Das instabile Gerüst wackelte, als einer von Amalias Angreifern aufsprang und sich nach einem guten Griff umsah. Über ihm hatte Amalia mittlerweile die beste Taktik gefunden, um an der Errichtung nach oben zu klettern. Vorsichtig zog sie sich Stück für Stück hoch, bis sie oben ankam. Für nur eine Sekunde schloss sie die Augen, um sie auszuruhen. Dieser kurze Moment von Unachtsamkeit reichte aus, um sie ins Wackeln zu bringen. Beinahe fiel sie vom Zaun. Nur mit Mühe konnte sie sich wieder in Position ziehen.

You've reached the end of published parts.

⏰ Last updated: Jul 08, 2019 ⏰

Add this story to your Library to get notified about new parts!

Die FluchtWhere stories live. Discover now