Nika
Seufzend richtete Nika sich auf und schlug schlaftrunken nach dem Wecker. Bah! Sie hasste Montage! Besonders den ersten Montag nach den Ferien. Aber es half ja nichts. Also ergab sie sich ihrem Schicksal und schnappte sich eine dunkelblaue Jeans und eine zitronengelbe Bluse, schlurfte ins Bad, duschte sich und flocht ihre haselnussbraunen Haare zu einem Zopf. Zum Frühstück gab es Toast und Orangensaft - wie immer. "Einen schönen Tag, Mäuschen!", rief Nikas Mutter ihr hinterher, als sie zur Bushaltestelle rannte. Beinahe hätte sie den Bus verpasst. Erleichtert ließ Nika sich auf einen Sitzplatz gegenüber einem Mann, der ständig nervös auf seinem Handy herumtippte, fallen. An der vorletzten Haltestelle stieg sie aus und lief die restlichen paar Meter. Keiner ihrer Freunde fuhr mit ihrem Bus, deshalb ging sie schweigend und in Gedanken versunken, während um sie herum andere Schüler redeten. In der Schule angekommen, merkte sie, dass es noch ziemlich früh war. Nika wollte sich gerade auf den Weg zu ihrem Klassenraum machen, als sie jemand auf die Schulter tippte. Sie drehte sich um und sah zwei beinahe identische Jungs mit exakt den gleichen, schulterlangen, hellbraunen Locken, grauen Augen und einem breiten Grinsen. "Luke! Jace!", lachte Nika und umarmte die beiden. "Na, hast du uns vermisst?", fragte Jace zuckersüß. Die Zwillinge waren ihre besten Freunde, die drei waren einfach unzertrennlich. Quatschend und Witze reißend standen sie noch ein paar Minuten auf dem Hof und erzählten von ihren Ferien. Luke und Jace waren in Spanien gewesen, was an ihrer Hautfarbe allerdings nichts verändert hatte. Die beiden waren hell wie eh und je. "Ihr habt es gut gehabt!", sagte Nika, "Wir sind nur an die Ostsee zu meinen Großeltern gefahren!". Schließlich war es Zeit, zum Unterricht zu gehen. Sie liefen an kichernden Kindern vorbei in Richtung Ostflügel, dort war nämlich ihr Klassenraum. Vor der Tür daneben stand ein Junge, der etwas ängstlich und nervös wirkte. Nika ging zu ihm hin. "Hi, ich bin Nika!", sagte sie freundlich,"Du bist neu hier, oder?". Der Junge nickte zurückhaltend. Jetzt kamen auch die Zwillinge näher. "Wenn wir dir einen Tipp geben können; leg dich nicht mit Nino Vogelsang an! Der hat ein paar üble Schläger-Freunde!", raunten sie ihm zu. Das Gesicht des Jungen wurde kurz kreidebleich, doch als Luke ihm zuzwinkerte, lächelte er ein bisschen. Nika musste kichern, obwohl das ein ernst gemeinter Ratschlag gewesen war. Die drei kannten die Klasse, vor der der Junge stand. Luke und Jace hatten sich einmal mit Nino Vogelsang gestritten und später eine Ausrede erfinden müssen, warum sie mit blauen Flecken am ganzen Körper nach Hause gekommen waren. Ein Blick auf ihre Armbanduhr verriet ihr jedoch, dass sie schon spät dran waren. "Wir müssen dann mal!", erklärte Nika und zog die Zwillinge am Ärmel. Dann gingen sie in ihren Klassenraum. Drinnen herrschte reges Geplapper. Die drei hatten kaum Zeit sich zu setzen, als auch schon Frau Holder, die Klassenlehrerin, hereingerauscht kam. Als erstes bedachte sie die ganze Klasse mit einem bösen Blick und meckerte dann: "Ich werde auch in diesem Schuljahr eure Klassenlehrerin bleiben, also versucht, nicht die Schule in Brand zu setzen, zu sprengen, zu vergiften oder sonst irgendetwas Dummes zu tun!". Keiner aus der Klasse konnte sie leiden und sie die Klasse nicht. Das wird bestimmt ein tolles Schuljahr!, dachte Nika.
Die meiste Zeit schoben die drei Kinder sich Zettelchen zu, da sie nicht am ersten Tag gleich schon eine Ermahnung bekommen wollten. Eigentlich hörte nur Nika den Lehrern einigermaßen zu, Luke und Jace waren anscheinend mit den Gedanken woanders. Manchmal ärgerte sich Nika über ihre beiden Freunde. Es schien, als würden sie die Schule gar nicht ernst nehmen. Sie dagegen war sich bewusst, dass man für einen guten Abschluss auch etwas tun musste. Mit strenger Mine stieß sie Jace den Ellenbogen in die Seite und warf ihm einen tadelnden Blick zu. "Hör auf zu quatschen!", zischte sie. Jace setzte einen Hundeblick auf und erwiderte gespielt untergeben: "Ja Ma'am. Natürlich, Ma'am!" Kopfschüttelnd wandte Nika sich ab. Danach hatten sie Sport, wohl das einzige Fach, in dem Nika immer nur zweien oder dreien hatte. Besonders das Turnen fiel ihr schwer. Und genau das hatten sie jetzt. Die Klasse hatte sich in der letzten Stunde in Gruppen zusammengetan und angefangen, eine kleine Kür einzuüben. Die sollten wir heute vorführen. In Nikas Gruppe waren (natürlich) Luke und Jace und ein kleines blondes Mädchen namens Ida. Mit ihr war Nika zwar auch befreundet, doch nicht so gut wie mit den Zwillingen. "Also dann los!", sagte Ida und ihre braunen Augen glänzten. Rad, Rolle vorwärts, Kerze, Rolle rückwärts, Brücke. Für normale Menschen eigentlich nicht so schwer. Für Nika schon. Das Rad funktionierte noch gut, doch irgendwo zwischen der Kerze und der Brücke machte es KNACK! und ein stechender Schmerz fuhr durch ihre Hüfte. Nika keuchte auf. Es fühlte sich an, als würde jemand glühende Nägel von innen durch ihre Knochen, durch ihr Fleisch schlagen und eine verkokelte Spur hinterlassen. Sie krümmte sich zusammen. Einige Sekunden später waren ihre Freunde bei ihr. "Was ist los? Nika! Was hast du?", fragte Luke. "Hüfte!", keuchte Nika. Ida lief zu ihrer Sportlehrerin, Frau Heize. Schnelle Schritte näherten sich. "Bringt sie erst mal ins Krankenzimmer!", befahl ihre Lehrerin. "Kannst du stehen?", fragte Jace vorsichtig. Ganz langsam setzte sie sich auf. Als sie schließlich auf die Beine kam, jagten glühende Punkte an ihren Augen vorbei. "Ist schon gut!", brachte sie wage heraus, doch die Zwillinge legten Nikas Arme um ihre Schultern und stützten sie. Zusammen humpelten sie ins Krankenzimmer. Es war in gleißendem Weiß gestrichen und auch in weiß möbiliert. Die Frau die hinter dem großen Schreibtisch saß (Nika wusste ihren Namen nicht) legte sie auf eine Liege und untersuchte ihre Hüfte. Die beiden Jungen schickte sie wieder zum Unterricht. Luke und Jace warfen ihr noch einen entschuldigenden Blick zu, dann waren sie verschwunden. Die Pflegerin kühlte ihre Hüfte mit einer Salbe und wickelte einen weißen Verband darum. "So!", sagte sie freundlich, "Jetzt kannst du wieder in den Unterricht gehen, aber du solltest vielleicht erst mal nur zuschauen und deine Hüfte nicht allzusehr belasten! Wenn die Schmerzen schlimmer werden, kommst du wieder zu mir, eventuell muss ich dir dann einen Rollstuhl verschreiben!". Nikas Gesicht wurde kurz blass. "Keine Sorge! Der Rollstuhl wäre nur bei sehr starken Schmerzen notwendig!", versuchte sie sie zu beruhigen. Nika nickte und humpelte zurück zur Sportstunde.

Die Legenden der Sagenwelt (vorläufiger Titel) *Leseprobe*Where stories live. Discover now