Aus der Zeit

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Warum können die Nachbarn ihre Scheissweihnachtslieder nicht tonlos singen. Im ganzen Treppenhaus hallt die Scheinheiligkeit wider. Die Schneeflocken, die sich auf ihrem Heimweg auf ihre Fellkapuze gesetzt haben, schmelzen in der kurzen Zeit, in welcher sie die Treppe zu ihrer Wohnung im ersten Stock hinaufsteigt. Augenblicklich fühlt sich die warme Jacke klamm an, wie eine schimmelige zweite Haut. Während die Haustür ein bisschen zu laut hinter ihr ins Schloss fällt, lässt sie Tasche und Jacke da fallen, wo sie gerade steht. Der Spiegel gegenüber des Eingangs zeigt ihr schonungslos die Wirklichkeit: Eine müde, junge Frau, lange, zerzauste Haare, der Ausdruck in den Augen ein bisschen zu kühl, um noch den Schein des Es-geht-mir-gut zu wahren. Ein Mädchen in der Wohnung ihrer Eltern, alleine, an Weihnachten.

Sie läuft einmal durch die ganze Wohnung und drückt auf alle Lichtschalter. Die bedrückende Leere weicht etwas zurück, als Licht auf sie fällt. Die Luft riecht nach den Menschen, die sich normalerweise mit ihr zusammen hier aufhalten und die jetzt, wie es lange geplant und kurzfristig nicht mehr stornierbar gewesen war, zu den Verwandten ins Ausland gereist sind. Nein, sie wolle hier bleiben. Sie wolle alleine sein, nachdenken, früh ins Bett gehen und endlich einmal wieder ausschlafen. Im jetzigen Moment des Nachhause Kommens verflucht sie sich dafür, so entschieden zu haben. Was soll sie denn mit sich alleine. Die Nachbarn singen immer noch. Es könnte auch eine CD sein, die in Dauerschleife läuft, denn eigentlich glaubt sie nicht, dass Frau Mink in der Wohnung über ihr ohne Hilfe von Zauberei oder Alkohol solche Töne von sich zu bringen vermag. Und Alkohol trinkt sie hoffentlich keinen, dann wären drei Jahre Abstinenz umsonst gewesen. Ist ihr ja auch egal. Was sie daran stört, ist bloss, dass während sie zu akzeptieren versucht, von allen verlassen zu sein, hinnehmen muss, trotzdem belästigt zu werden und sich nicht davor schützen zu können.

Sie steht in der Mitte des Wohnzimmers, dem man den festlichen Anlass des heutigen Tages nicht ansieht. Wer dekoriert schon die Wohnung, wenn er sowieso wegfährt? Einige Ideen blitzen in ihrem ansonsten so leeren Kopf auf, doch keine setzt sich durch. Nicht Essen, nicht Duschen, nicht Fernsehen, und so legt sie sich an Ort und Stelle auf den Boden.

Wären die letzten Wochen anders verlaufen, würde sie vielleicht genauso hier liegen, sich aber ganz anders fühlen. Vielleicht wäre das ihre Art, sich eine ganz kleine Auszeit der Menschen zu nehmen, die um sie sind und den Abend mit Wärme füllen. Jetzt ist es bloss eine Auszeit von ihr selbst, die absolut nichts mit sich anzufangen weiss. Die sich selbst gar nicht mehr versteht. Ist sie denn traurig oder einfach leer? Und ist Leere denn die Abwesenheit von Gefühlen oder die weisse Farbe, die sich über die sehr wohl vorhandenen Gefühle gelegt hat? Macht es ihr wirklich etwas aus, allein zu sein und würde es ihr besser oder überhaupt anders gehen, wenn jemand bei ihr wäre? Sie rollt ihren Kopf zur anderen Seite und da sieht sie etwas auf dem Couchtisch liegen, das nicht zur üblichen Einrichtung des Raumes gehört. Es ist ein kleines, rechteckiges Geschenk und mit einer Notiz versehen: Unsere liebe Kleine, wie schade, dass du heute nicht bei uns bist. Wir feiern später nach, aber du sollst dieses Geschenk schon haben. Vielleicht kannst du es heute Abend brauchen. Kuss, Mama & Papa

In silbernes Geschenkpapier eingewickelt, natürlich wartet sie nicht damit, es auszupacken, ist eine kleine Kartonschachtel, wie man sie von Spielkarten kennt, und die die Aufschrift „Oblique Strategies" trägt. Gerührt lächelt sie, von ihr selbst unbemerkt. Ein einziges Mal hatte sie die Karten ihrem Vater gegenüber erwähnt und dass sie diese gut brauchen könnte, um die kreativen Blockaden zu überwinden, die sie in letzter Zeit des Öfteren heimsuchen, wenn sie sich an die Staffelei stellt. Die Karten sind schwarz und tragen Sätze in Weiss. Die oberste Karte verkündet:

Don't be frightened of cliches.

Sofort empfindet sie sich als eines, wie sie da selbstmitleidig auf dem Teppich herumrollt und steht deshalb auf, um ins Badezimmer zu gehen. Während die Spülung rauscht, sieht ihr im Spiegel das gleiche Bild entgegen, welches ihr in den letzten verhängnisvollen Wochen ebenfalls tagtäglich entgegengesehen hat. Die Haarspitzen haben die Anfänge dieser Zeit miterlebt, die Momente, in denen man eventuell noch etwas hätte tun können, um das Unglück abzuwenden. Wenn man es nur gewusst hätte. Don't be frightened of chliches. Wenn sie doch nur nicht dauernd daran erinnert werden würde, dass sie immer noch die Gleiche ist, die vor diesen Wochen nicht verhindert hat, was nun alles passiert und festgesetzt ist. Don't be frightened of chliches. Einige Minuten später verlässt sie das Badezimmer und ist überrascht, wie eigenartig es sich anfühlt, wenn die Luft über die frisch rasierte, nackte Kopfhaut streicht.

Give way to your most urgent impulse.

Sie lässt die Karte auf den Stapel zurückfallen. Wenn sie überhaupt irgendwelche Impulse verspüren würde! Dann würde sie bestimmt nicht so tatenlos hier auf dem Fussboden sitzen. Doch sie hat den Gedanken kaum zu Ende gedacht, da fällt ihr der Hund ein. Er sitzt unten bei den Briefkästen und trägt eine bescheuerte, leuchtend rote Schleife um den Hals. Bestimmt wird er heute Leonie geschenkt, dieser Göre aus dem Erdgeschoss, die immer so gelangweilt aus der Wäsche schaut. Der arme Hund wird die Aufmerksamkeitsspanne dieses verwöhnten Mädchens höchstens drei Tage halten können und in zwei Monaten vermutlich im Tierheim sitzen. Ohne länger darüber nachzudenken springt sie auf und läuft aus der Wohnung ins kalte Treppenhaus, zu den Briefkästen, unter welchen der Hund noch immer sitzt. Mit klopfendem Herzen, sie hat noch nie irgendetwas gestohlen, löst sie die Leine und nimmt den Hund auf den Arm, der sich nicht wehrt und sie bloss mit grossen Augen anstarrt. Sie rennt die Stufen zur Wohnung hoch und schliesst die Tür hinter sich, so schnell es geht. Drinnen atmet sie auf und lässt den Hund hinunter. Er schnüffelt an ihrer Jacke, die immer noch verwahrlost auf dem Boden liegt, und trabt dann in Richtung des warmen Wohnzimmers davon. Es fühlt sich ganz anders an, ins Wohnzimmer zu treten, wenn sie weiss, dass sich dort bereits jemand aufhält.

Go outside. Shut the door.

Es fällt kein neuer Schnee mehr. Die Luft ist so kalt, dass sie beim Atmen schmerzt. Vom Balkon überblickt man das ganze Viertel, alle erleuchteten Fenster, den kleinen Park, um den die Häuser angeordnet sind.

Breathe more deeply.

Ein stechender Schmerz fährt durch ihre Lunge, die überfordert ist mit der plötzlichen Eiseskälte. Sie überlegt sich, ob es nicht besser wäre, mit dem Atmen aufzuhören. Vielleicht wäre es immer besser, sich gegen Schmerz zu entscheiden, egal was es ist, wofür man sich dann stattdessen entscheidet. Sie versucht es eine halbe Minute und gibt es dann wieder auf. Aufzuhören ist also vielleicht doch nicht so einfach. Aber sollte man immer das Einfachste tun? Ist das Richtige einfach oder schwer? Oder weiss man erst dann nicht mehr, was das Richtige ist, sobald es gleichzeitig das Schwierigere ist? Und heisst das dann, dass man generell nie den einfachen Weg wählen sollte, wenn man sich überhaupt der Frage stellen muss, wie man sich entscheiden sollte? In der Hand hält sie den Kartenstapel. Sie schiebt die zuletzt benutze Karte unter die anderen, um den nächsten Anstoss zu lesen.

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