Kapitel 4

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Es ist kalt draußen. Vom Himmel rieselt es feine, weiche Flocken, und ich bin wieder ein kleines Mädchen. Ich öffne den Mund, um ein paar der zarten Eiskristalle mit der Zunge aufzufangen. Als ich es schaffe, kichere ich und lasse mich rückwärts in einen großen Schneehaufen fallen. Vor mir ist das Haus – unser Haus. Es ist groß und sticht mit seiner dunkelroten Farbe deutlich aus dem blassen Weiß hervor. Ich strample mit den Armen und Beinen und erzeuge einen Schneeengel, so wie mein Dad es mir gezeigt hat. Er kommt bald von der Arbeit, und ich will warten, bis sein Auto in Sicht ist.
»Jesslyn, mein kleiner Hase, du erkältest dich noch!«, ruft meine Mom aus dem Küchenfenster, und als ich aufblicke, lächelt sie mir warm zu.
Ich winke ihr, kämpfe mich aus dem Schnee und stehe auf. Unser Vorgarten ist über und über mit dem weißen Pulver bedeckt. Es glitzert in der Sonne wie Tausende kleiner Diamanten. Obwohl meine Mom es mir verboten hat, stopfe ich mir rasch ein wenig davon in den Mund und spüre, wie es in Sekundenschnelle dahinschmilzt. Bevor ich es aber ein weiteres Mal tun kann, knirscht der festgefrorene Schnee auf der Straße, und ein schwarzer Wagen fährt langsam in die Einfahrt.
»Daddy!«, kreische ich und renne auf den aus dem Auto steigenden Mann zu.
Er trägt einen dunklen Anzug und hält einen Koffer in der Hand, den er erschrocken fallen lässt, als ich mich in seine Arme werfe. Doch dann lacht er und wirbelt mich durch die Luft.
»Hallo, mein Schatz«, sagt er fröhlich und setzt mich dann wieder ab. »Du bist ja schon ganz durchgefroren. Komm, wir gehen rein zu Mommy!«
Gemeinsam betreten wir das Haus. Der große Eingangsbereich ist erhellt von Lichterketten, und im Wohnzimmer steht ein riesiger Weihnachtsbaum, der mit roten und goldenen Kugeln geschmückt ist. Sie glitzern und funkeln, sodass ihr Bild vor meinen Augen verschwimmt. Der Tisch ist bereits gedeckt, und Mom sagt uns, dass wir unsere Hände waschen gehen sollen. Mein Dad und ich veranstalten ein Wettrennen zum Badezimmer und liefern uns beim Händewaschen eine kleine Wasserschlacht. Danach setzen wir uns alle an den Tisch und essen. Das Besteck klappert an den Tellerrändern, und die Baguettekruste knuspert in meinem Mund. Das Essen schmeckt gut, doch keiner von uns sagt ein Wort. Es ist so unangenehm still. Zu still.
Ich schaue auf. Das Gesicht meiner Mom ist ernst, und mein Dad sieht wütend aus. Seine Hand klammert sich auffällig fest um sein Messer, und an seinem Hals tritt eine dicke Ader hervor. Plötzlich öffnen beide den Mund. Ich schaffe es gerade noch rechtzeitig, mir meine Ohren abzuschirmen, bevor sie anfangen, sich zu streiten. Ich singe, um das Geschrei, das ich noch dumpf durch meine Handflächen hören kann, vollständig auszublenden. Tränen kullern mir heiß über die Wangen, doch ich singe mein Lied unermüdlich weiter, so laut ich kann. Ich weine und singe – und dann werde ich aus der Szene gerissen.
Unser wunderschön erleuchtetes Wohnzimmer weicht einem kalten Vorhof in einer grauen trostlosen Stadt. Um mich herum türmen sich riesige Hochhäuser auf. Wie Unkraut sprießen sie aus dem Boden und werfen große, kalte Schatten auf mich und meine Mom.
Ich bin jetzt etwas älter, und die Haare meiner Mom sind an einigen Stellen schon grau. Ich kann riechen, dass sie Alkohol getrunken hat.
Schweigend blicken wir beide das Hochhaus vor uns an, und ich spüre Tränen auf meinem Gesicht. Dann schnappe ich mir eine Kiste zu meinen Füßen und betrete langsam das muffige, dunkle Treppenhaus. Der Gang in den siebten Stock ist unglaublich anstrengend – körperlich, aber auch seelisch. Ich kann spüren, wie mein Herz mit jedem Schritt schwerer wird. Doch ich beiße die Zähne zusammen und erklimme weiter Stufe um Stufe, bis ich an einer Tür ankomme, in der ein dicker alter Mann lehnt und mir den Schlüssel für unser neues Zuhause überreicht.
Die Wohnung ist klein, dunkel und stinkt nach Zigarettenqualm. Das Zimmer, das von nun an meins sein wird, gleicht einer Abstellkammer. Ich stelle die Kiste ab und lasse mich auf den Boden sinken. Der Gedanke an Dad, an alles, was vorgefallen ist, lässt mir die Tränen in die Augen steigen. Mein Herz und alles andere, was zu mir gehört, tun unendlich weh.
Meine Mom betritt schnaufend nach mir die Wohnung. Als sie mich sieht, schnaubt sie missbilligend.
»Hör auf zu heulen«, zischt sie, zündet sich immer noch atemlos eine Zigarette an und bläst milchigen Rauch in mein neues Zimmer. »Das hast du alles deinem Vater zu verdanken.«
Ich ziehe die Nase hoch, dann stehe ich auf und gehe zum Fenster. Alles, was ich von dort aus sehen kann, sind Hochhäuser – überall nur Hochhäuser. Während die Welt vor meinen Augen verschwimmt, denke ich wieder an meinen Dad und daran, dass ich ihn für immer verloren habe.

Club der letzten Wünsche *LESEPROBE*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt