Kapitel 3 - Rot und Grau

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Den Moment, in dem sich Nias Blick zum ersten Mal mit meinem kreuzte.

Die Entscheidung, stehen zu bleiben, als er im Gang nach mir rief.

Der Entschluss, ihm mein Herz auszuschütten, als wären wir Freunde.

Wenn man es genau betrachtete, dann war ich enttäuscht von mir selbst. Ich besass eine ziemlich gute Menschenkenntnis und sie hatte mich noch nie so sehr im Stich gelassen, wie heute.

Ich fühlte mich von mir selbst betrogen, denn ich hätte es besser wissen müssen.

Ein Teil von mir war allerdings davon überzeugt, dass Nia mich nicht wegen meines Stotterns abgelehnt hatte. Es war ein hartnäckiger Gedanke, der sich nicht abschütteln liess und mich so sehr beschäftigte, dass ich mich schliesslich aus dem Bett rollte und mir meinen Rucksack schnappte, um meine Hausaufgaben zu erledigen.

Aber als ich das Mathebuch aufschlug, da fiel mir wieder ein, dass ich nicht wusste, wie ich die Aufgaben lösen sollte, weil ich heute im Unterricht nicht aufgepasst hatte.

Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück und seufzte.

Dann erhob ich mich und schnappte mir im Flur, aus dem Putzschrank, den Staubsauger. Eine halbe Stunde später hatte ich die gesamte Wohnung gesaugt und stand mit einem Geschirrtuch bewaffnet in der Küche und räumte die Spülmaschine aus.

Seit meine Mutter ihre Koffer gepackt und uns verlassen hatte, erledigte ich die meisten Aufgaben hier im Haushalt.

Mein Vater arbeitete im Sekretariat einer Anwaltskanzlei und kam oft erst spät am Abend nach Hause, weil wieder einer seiner Vorgesetzten ein Dokument haben wollte, das zuerst aufgesetzt werden musste oder ein Meeting sich in die Länge zog, dessen Protokoll am nächsten Tag erwartet wurde.

Er war ein Mensch, der sich in erster Linie um alle anderen sorgte, bevor er an sich selbst dachte. Das Leben hatte schon genügend Kummerfalten in seine Stirn gegraben und wenn er heute Abend nach Hause kam und fragte: „Na, einen schönen ersten Tag gehabt?", dann würde ich breit grinsen.

Ich mochte es nicht, wenn er sich grämte und deshalb half ich ihm, wo ich konnte.

Aber heute verschaffte mir nichts davon die nötige Ablenkung.

Am Ende fand ich mich im Badezimmer vor dem Spiegel wieder und als ich es schliesslich nicht mehr aushielt, unterbrach ich meinen Putzwahn für eine Minute und musterte mich selbst.

„Erkann dich nicht l-l-leiden weil du st-stotterst", sagte ich, aber es hörte sich noch immer falsch an in meinen Ohren. Etwas daran passte einfach nicht zu dem Eindruck, den er bei mir hinterlassen hatte. Die alternative Erklärung war allerdings auch nicht besonders schmeichelhaft für seinen Charakter.

Er hatte mich stehen lassen, weil ich ein Aussenseiter war.

Jeder Mensch mit Augen im Kopf konnte sehen, dass Nia es gewohnt war, die Aufmerksamkeit seiner Mitschüler zu geniessen.

Bestimmt war er an seiner alten Schule sehr beliebt gewesen und suchte nun den Kontakt zu den Schülern, die sich in seinen Kreisen bewegten. Den Leuten, die den Ton angaben und denen man hinterherschaute, wenn sie mit ihren Freunden lachend an einem vorübergingen.

Ich starrte in den Spiegel und liess meinen Blick über mein blasses Gesicht wandern. Meine schulterlangen, dunklen Haare lockten sich leicht und fielen mir in die Stirn, wenn ich sie nicht immer wieder zur Seite strich, oder alles zu einem Zopf zusammenband.

Meine braunen Augen waren so gewöhnlich, wie alles andere an mir. Lediglich die Sommersprossen, die besonders stark auf meiner Nase und meinen Wangen ausgeprägt waren, hätte man als interessant bezeichnen können.

Hinter der Bühne (AT)Where stories live. Discover now