› 2 ‹ Von Alkoholproblemen und Straßenbahntüren

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call me maybe - carly rae jepsen

Ich weiß nicht, ob meine Tante zu Hause ist, als ich den Schlüssel ins Schloss stecke. Vielleicht arbeitet sie, vielleicht treibt sie sich auch einfach irgendwo in der Stadt herum. Das sieht ihr ähnlich.

Doch als ich die schwere Tür zu ihrer Wohnung aufstoße, kommt mir nicht nur die für gewöhnlich stickige Luft entgegen, sondern auch die Klänge des Radios, das gerade ein Lied spielt.

»Jacky?«, rufe ich fragend in die Wohnung und hänge meine Schlüssel ordentlich auf.

»Ich mache gerade etwas für uns zu essen«, erklingt es aus der Küche. »Es ist leider nur eine Suppe, aber ich hatte nichts anderes mehr im Haus. Du magst Gemüsesuppe, nicht wahr?«

Wenn ich nein sage, änderte es rein gar nichts, das weiß ich, so rufe ich eine leise Zustimmung in ihre Richtung.

Immer noch mit dem Rucksack auf dem Rücken begebe ich mich ins karg eingerichtete Wohnzimmers gleich am Ende des zugestellten Flures.

Irgendetwas scheint meiner Tante wohl bei der Aufteilung der Möbel falsch gemacht zu haben, wenn alles den Flur vollstellt. Jedoch kenne ich die Wohnung nur so, wenn es plötzlich anders wäre, wäre es ungewohnt.

Im Wohnzimmer angekommen stelle ich meinen Rucksack neben dem roten abgewetzten Sofa ab und räume die Weinflaschen vom Tisch.

Meine Tante hat ein kleines - oder vielleicht auch ein größeres - Alkoholproblem mit einer speziellen Vorliebe für den roten Traubensaft, der exakt die Farbe von frischen Blut widerspiegelt, wie ich finde.

Der Alkohol ist auch der ausschlaggebende Punkt, warum ich nicht bei ihr wohne, sondern seit fünfzehn Jahren im Waisenhaus versauere. Ihr Job in einer - nicht ganz sauberen - Bar gibt den Rest.

Meinen Vater kenne ich nicht, vielleicht will ich das auch gar nicht, und meine Mutter hat mich mit zwei Jahren einfach zurückgelassen, so wurde es mir jedenfalls erzählt. Mehr weiß ich nicht. Bis zu meinem elften Lebensjahr war sie etwa zwei oder dreimal im Jahr bei ihrer Schwester, manchmal habe ich sie auch gesehen, aber nie als meine Mutter wahrgenommen. Außerdem war sie spielsüchtig und kein guter Umgang für mich.

Etwas anderes als das Waisenhaus und das eine Wochenende im Monat mit meiner Tante kenne also ich nicht.

Ich schüttele den Kopf, um die Erinnerung aus mir zu vertreiben und stelle die Flaschen nach draußen in den Flur auf eine Kommode, in der Hoffnung, dass Jacky sie irgendwann mal wegbringt.

Dabei fällt mein Blick auf ein Bild an der Wand, das dort ebenfalls schon mein ganzes Leben hängt. Es zeigt meine Tante zusammen mit meiner Mutter auf zwei Gartenstühlen in der Sonne sitzen.

Es ist wenige Wochen vor der Schwangerschaft mit mir und ihrem Streit miteinander entstanden. Ich habe jedoch nie erfahren, worum es darin ging. Der Kontakt der beiden ist danach sehr dürftig geworden und nachdem meine Mutter mich verstieß, brach er gänzlich ab. Jedenfalls erzählte meine Tante mir das so.

Auf dem Bild hat meine Mutter ein geblümtes Sommerkleid an, ihre rehbraunen Haare fallen ihr in künstlichen Wellen über die Schultern. Es ist das einzige Bild, das ich von ihr kenne.

Meine Tante hat zu dem Zeitpunkt noch etwa ellenbogenlange dunkle Haare, inzwischen sind sie kurz und blond eingefärbt, was ihr jedoch nicht minder steht.

Das Geräusch von klirrendem Geschirr weckt mich aus meinen Gedanken und mein Blick schnellt zur Küchentür, die gerade aufschwingt und fast gegen die Wand knallt.

Absturznächte [abgebrochen]Where stories live. Discover now