Das Ritual - Kurzgeschichte

37 1 1
                                    

Durch die kalten, grauen Gitterstäbe hindurch sehe ich mehrere Gestalten, die sich durch den nebeligen Wald dem Übungsplatz nähern. Sie alle tragen dunkel rote Umhänge mit spitz zulaufenden Kapuzen, die an Zwergen Mützen erinnern könnten, wären diese Gestalten nicht genau das Gegenteil von Zwergen.  Unter den großen,  rot bemäntelten Gestalten ist auch eine kleinere Person ohne Umhang, die neben den Anderen, wie ein Kind wirkt. Schon auf die Entfernung kann ich spüren, dass die kleine Person sich in dieser Situation unwohl fühlt. Einige Meter vor meiner eisernen Zelle bleiben die Gestalten stehen und bauen sich in einem Halbkreis vor der Person ohne Mantel auf.

„Du hast deinen Weg zu uns gefunden, da du dich berufen fühlst in den Kreis der Roten Brüder einzutreten.", verkündetet der Größte der Männer im Umhang und mir stockt der Atem. Dank meiner Fähigkeit die Gedanken von Menschen lesen zu können weiß ich genau, dass diese Person, die kurz davor steht das Aufnahmeritual in den Kreis zu bestreiten, ein Mädchen ist. Ein 17 Jähriges Mädchen um genau zu sein. Sie trägt einen weit geschnittenen schwarzen Anzug, der an den eines Taekwondo-Kämpfers erinnert und ihre weiblichen Kurven verdeckt. Ihre vermutlich schulterlanges, schwarzes Haar ist zu einem Zopf zusammengebunden und trotzdem ist es fast nicht möglich zu übersehen, dass diese Person eindeutig ein Mädchen ist.

Der Kreis der Roten Brüder ist eine Gemeinschaft aus Drachenflüsterern, die das Reich von Alakien vor Angriffen dieser Bestien bewahren soll. Sie ersetzen eine Art Armee Aalakiens und sind eigentlich eine reine Männer Sache.

„Wie dir bereits bewusst ist wirst du heute in einem Aufnahmeritual beweisen müssen, dass du ein wahrer Drachenflüsterer bist und es verdienst in den Kreis der roten Brüder aufgenommen zu werden. Dazu wirst du, wie jeder andere vor dir auch, ohne Hilfsmittel einen Drachen bändigen müssen.", erklärt derselbe Mann, welcher schon vorher gesprochen hatte. „Solltest du dies allerdings nicht schaffen", fügt ein Anderer mit einem diabolischen Grinsen hinzu, „So wirst du nicht nur kein Mitglied im Kreis der Roten Brüder, dir werden außerdem alle vorherigen Titel entzogen und du wirst wegen Verrat am Reich von Alakien angeklagt."

Ich sehe, wie das Mädchen panisch versucht einen Kloß in ihren Hals herunterzuschlucken. Sie muss wohl unter einem enormen Druck stehen, denn das Einzige, was sie denkt ist: „Tu es für Megia! Du musst sie retten! Du musst diesen Drachen bändigen! Es geht um Megaas Leben!" Verwirrt von den zusammenhanglosen Ausrufen versuche ich tiefer in ihre Gedanken einzudringen, scheitere jedoch, da ich ihre Augen von meinem Käfig aus nicht sehen kann. Auch wenn ich einige Meter von ihr entfernt bin, fühle ich die Angst des Mädchens. Normalerweise würde es mich stärker machen, zu wissen, dass ich meinem Gegenüber überlegen bin. Bei ihr ist es jedoch anders. Ich leide mit ihr. Sie hat keine bösen Absichten, sie ist nicht hungrig nach Macht, wie der Großteil Roten Brüder. Sie ist selbstlos und möchte Megia, wer auch immer sie ist, retten und ich werde ihr dabei helfen, so gut ich es eben kann.

Mit einem donnernden Lärm fällt eine Wand aus Gitterstäben zu Boden. Die Roten Brüder haben den Drachen, den das Mädchen zähmen muss ausgesucht und freigelassen. Ich schaue mich um, um zu sehen welche feuerspuckende Bestie für sie auserwählt wurde und es dauert eine Weile, bis ich merke, dass es die Metallstäbe an der Vorderseite meines Käfigs waren, die vor wenigen Sekunden mit einem dröhnenden Scheppern auf dem Boden gelandet sind. Ich bin der Drache, den sie bändigen muss.

Sie müssen misstrauisch geworden sein, wenn sie ihr genau den Drachen zuteilen, der noch nie freigelassen wurde, da sie ihn selbst nur zu viert bändigen oder besser gesagt gefangen nehmen konnten. Langsam, aber gezielt hebe ich meine schweren Klauen in die Luft und mache einen Schritt aus dem Käfig heraus. Endlich kann ich nach so vielen Jahren wieder auf meinen Beinen stehen und meine Flügel in ihre volle Größe entfalten. Es tut gut sich wieder bewegen zu können und nicht mehr in dieser eisernen Zelle zu liegen.

Das RitualWhere stories live. Discover now