In der Küche nahm der ovale Tisch samt den Stühlen den meisten Raum ein. Es war bereits eingedeckt; offenbar waren gerade Vorbereitungen für eine Mahlzeit getroffen worden. Teller und Tassen, Schüsseln mit Brot und Käse, eine Platte mit Schinken standen bereit. Lächelnd bat Eilien sie, sich zu bedienen; sie würde später mit ihrem Vater essen, der auf einem Kontrollgang unterwegs war.

Dankend setzte sich Lorena und nahm vom Brot und dem Käse. Sich gleich an dem kostbaren Schinken zu vergreifen, wäre ungehörig gewesen. Eilien nahm ihr gegenüber Platz und achtete darauf, dass sie genügend zu essen und trinken bekam, und wie selbstverständlich schnitt sie eine dicke Scheibe vom Schinken ab und legte sie auf ihren Teller.

So umsorgt, schmeckte es Lorena ganz vorzüglich. Als sie beim letzten Bissen angelangt war, sagte Eilien unvermittelt: „Hauke ist kein einfacher Mensch."

Fast hätte sich Lorena am Rest verschluckt. Begann jetzt ein Verhör? Sollte sie eine ehrliche Antwort geben, sozusagen als Dank für das gute Essen? Sie beschloss, nicht allzu misstrauisch zu sein, sonst konnte Eilien sich vor den Kopf gestoßen fühlen. Es wurde Zeit, sich endlich einem Menschen zu öffnen. Sie war ja wie eine verschlossene Miesmuschel, und Eilien war gewiss kein böser Seestern, der sie verspeisen wollte.

„Seit Wochen ist es mit ihm die Hölle", vertraute Lorena ihr an.

„Du Ärmste, es muss sehr hart für dich sein", sagte Eilien mitfühlend. „Falls es dich tröstet ... mit meinem Vater habe ich es zwar leichter, trotzdem bin ich genauso einsam wie du."

Lorena konnte es kaum glauben. „Du und einsam?? Das verstehe ich nicht!"

„Na, aber gewiss doch! Bei mir bleiben die Leute zurückhaltend und passen auf, was sie sagen. Sie haben Angst, und das liegt an meinem Vater. Weißt du, Lyka, er ist zwar sehr geachtet bei den Leuten, aber wegen seiner Stellung nicht beliebt. Dabei drückt er oft ein Auge zu, aber er kann es nicht allen recht machen. Er steht beim Herzog in der Verantwortung und muss Rechenschaft ablegen. Der Herzog wird ihm nicht glauben, wenn er ihm erklärt, dass nur wenig Strandgut geborgen worden ist. An unseren Inseln und Halligen wird immer irgendwas angeschwemmt, wieviel und in welcher Menge, das spricht sich 'rum."

Das leuchtete Lorena ein. Iwe Mannis saß sozusagen zwischen allen Stühlen. So sagte sie tröstend: „Das tut mir sehr leid für dich. Aber jedermann hält es für sein gutes Recht, das Strandgut für sich zu behalten."

Eilien nickte heftig. „Alle wissen es, mein Vater weiß es auch ... das Strandrecht ist ein uraltes Recht aus Vorväter Zeiten, und kein Landesherr wird je etwas daran ändern können! Spricht doch selbst der Pfarrer den Strandsegen und bittet den Herrn um einen gesegneten Strand!" Sie schloss die Augen und zitierte: „Wir bitten dich, oh Herre, wenn es schon deinem Ratschluss gefällt, die Schiffe stranden zu lassen, dann, oh Herr, führe sie hier an den Strand zum Wohle der armen Bewohner dieser Küste'. - Natürlich haben die Leute dann ein reines Gewissen. Viele sind arm über die Kosten des ständigen Deichens geworden, so ist es für sie ein willkommenes Geschenk des Meeres, ein Schiffbruch und der mögliche Tod in den Wellen ein Schicksal, das in Kauf genommen werden muss, und so tun sie es eben heimlich, und wenn mein Vater sie dabei erwischt, muss er jedes Mal eine Entscheidung treffen. Er muss allen gerecht werden: dem rechtmäßigen Eigentümer, sofern dieser nicht auch ertrunken ist, dem Herzog, und den Strandingern."

Lorena kniff die Augen zusammen. „Die See gibt, und die See nimmt. Wie bei mir ... ich bin Hauke vor die Füße gespült worden, und er hatte mich gleich für sich behalten als Magd. Durfte er auch das? Ist das euer heiliges Strandrecht?"

Eilien sah sie mit einem merkwürdigen Blick an. „So gesehen, ja. Aber was willst du? Bei uns im Norden sind Fremde ohne Geleitbrief ohne Rechte und daher bist du mutterseelenallein. Bedenke doch: so oder so hättest du dich als Magd verdingen müssen, und womöglich hättest du es schlimmer angetroffen. Auf Strand herrschen noch die alten Sitten und Tugenden, die woanders nicht mehr gelten. - Oder ist Hauke dir jemals nahegetreten?"

🌊Der Stern des Meeres🌊*WattyWinner 2019*Where stories live. Discover now