„Immer diese Katastrophen ... gab es die früher auch schon?"

„Wie man's nimmt. Vor Jahrhunderten bestand die Uthlande aus einem großen Gebiet aus Marschland und wenigen Inseln. Der Torf war der Reichtum der Uthlande und gleichzeitig auch sein Fluch. Mit dem Tuulgraben hatten sich die Friesen gleichzeitig das Land abgegraben, so dass es nun gleichauf mit dem Meeresspiegel liegt. Da hatte der Blanke Hans leichtes Spiel, die Uthlande immer weiter in Inseln und Halligen zu zerschlagen; so trennten die Sturmfluten die Gebiete Pellworm und Nordstrand vom Festland ab, woraus die große Insel Strand, so wie du sie kennst, entstanden ist."

„Das hätte ich nie gedacht ... und Rungholt ist einfach im Meer versunken?"
Haukes Brauen zogen sich so eng zusammen, dass sie einen einzigen schwarzen Strich bildeten. „Nein, Rungholt war nicht sofort untergegangen, wie die Chronik berichtet. Nachdem die Sturmflut einen großen Teil zerstört hatte, hatte sich die Mordsee das Rungholter Gebiet nach und nach geholt, immer mehr Boden fortgeschwemmt, dann ein paar Halligen übriggelassen, bis auch diese überspült wurden. Einzig die Hallig Südfall ist übriggeblieben." Er zeigte nach unten. „Sieh' genau hin! Dort ist gut zu erkennen, wie sich das Meer immer weiter in die Bucht frisst. Dies ist der schmalste Teil von Strand, und wenn der überflutet wird ... wehe, wehe! – Ich für meinen Teil habe genug vom Deichen", erklärte er fest. „Für mich ist diese Zeit vorbei. Ich lasse mir vom Blanken Hans nichts mehr wegnehmen, und vor ihm habe ich keine Angst; ich kenne das Gelände genau und werde mich zu retten wissen. Oben im Wüsten Moor ist es hoch genug, da kommt keine Flut hin."

Sie runzelte die Stirn. „Warum noch hier ausharren und nicht gleich ganz fortgehen? Woanders lebt es sich bestimmt leichter!"

Er lachte abfällig. „Woanders ist man ein Sklave! Aus gutem Grund heißt es bei uns Lewer duad üs slav - ‚lieber tot als Sklave'. Unser Volk hat sich nichts und niemandem gebeugt, hat sich niemals unterworfen, keinem Herrn und nicht der See. Ganz gleich, wer uns regiert – zur Zeit sind es die Schleswiger und die Dänen – aber was tut es? Wir bleiben trotzdem frei!"

Lorena runzelte die Stirn. Frei? War sie denn frei? Unter der strengen Hand von Hauke, nur geduldet bei den Strandingern? War das die sogenannte herrliche Freiheit? Sie jedenfalls war zu einem harten Leben auf Strand verdammt, und es war niemand da, der ihr helfen konnte oder wollte. Das konnte nur sie selbst tun, doch dafür war die Zeit noch nicht reif. Ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen, wagte sie noch nicht. Sie war an Hauke gebunden, und das nutzte er aus. Sie spürte, wie ihre Wut wuchs. Irgendwie musste sie den Groll loswerden, ehe sie daran erstickte. So ging sie zur Seite, spuckte aus, spie ihren Zorn aus, das half ein wenig.

Haukes flinken Mäuseaugen war ihr Tun nicht entgangen, misstrauisch rief er ihr zu: „He, hast du heimlich meinen Kautabak genommen?"
Sie gab zurück:. „Nein, ich muss nur den üblen Geschmack auf der Zunge loswerden", und spuckte noch einmal demonstrativ aus. Das gilt Dir! Eines Tages werde ich dir ins Gesicht spucken! Und dem Blanken Hans auch! Ich schwör's.

Beim Heimkommen entdeckten sie inmitten des Durcheinanders ein Ei, hübsch platziert in einer Kuhle aus Schlamm, und das klugerweise unter dem Tisch, der als einziges Möbel nicht umgestürzt war und noch den besten Schutz bot.
„Das Huhn!", riefen Lorena und Hauke fast gleichzeitig.

Rasch machte sich Lorena auf die Suche und fand es leise gackernd vor dem Schrankbett sitzen. Vor ihrem!
Sie näherte sich vorsichtig ... und das Tier machte keinerlei Anstalten, zu flüchten. Als Hauke hinzukam und unwillig den Arm hob, um es wegzuscheuchen, zischte sie aus einem Impuls heraus: „Psst!"
Sofort hielt das Huhn den Schnabel.
Lorena und Hauke wechselten erstaunte Blicke. Sie hockte sich hin und betrachtete den Eindringling genauer. Nach einer wohl gründlichen Putzaktion hatte sich der zerzauste, schlammbespritzte Vogel in ein recht hübsches Exemplar verwandelt.

🌊Der Stern des Meeres🌊*WattyWinner 2019*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt