Der Blanke Hans

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„Und der Wind hat sich gedreht. Oben vom Dach aus habe ich gesehen, wie die Flut kam. Zwei Stunden zu früh."

Sie starrte ihn an. „Das wilde Wasser -"

„... kommt", ergänzte er. „Geh' ins Haus und pack' Proviant zusammen. Eile dich! Ich schütte die Warft weiter auf, solange es geht."

Nicht ganz zwei Stunden später hatte sich das beschauliche Herbstbild völlig gewandelt. Die Sonne war verschwunden, dunkle Wolken wälzten sich am Himmel, das Sausen in der Luft steigerte sich zu einem Brausen. Fasziniert von dem Geschehen, stand Lorena tatenlos am Fenster und schaute zu.

Da stürmte Hauke in die Küche. „Es ist soweit. Hinauf!" Seine Stimme zitterte leicht.
Verwundert horchte sie auf. Was war das? Er, der sonst über jeden Sturm lachte, zeigte Nerven?

Auf dem Dachboden standen Talglichter, der Korb - randvoll gepackt mit Brot, Schinken und Käse - bereit, und Haukes Kiste, in der das Geld und die wertvollsten Funde aus dem Strandgut aufbewahrt wurden, war mit starken Tauen an den mächtigen Balken, der den Hauspfeiler bildete, gebunden.

Mit zitternden Knien ließ sich Lorena auf einen Haufen Decken nieder. Neben ihr standen vier große Krüge mit frischem Trinkwasser, das war vorerst genug, um durchzuhalten. Sie hatten alles getan, was in ihrer Macht stand. Hoffentlich.

Hauke zog die Leitertreppe ein. Sein Gesicht glich einer gespenstischen Maske. „Diese Sturmflut wird schwerer als die anderen werden", sagte er.
Kaum hatte er zu Ende gesprochen, erfüllte ein Brausen und Heulen die Luft, als seien alle Höllengeister auf einmal freigelassen worden.

Lorena presste die Hände auf die Ohren. Ihr Herz hämmerte bis zum Halse.
Der Sturm.
Nach einer kurzen Weile kreischte der Orkan im höchsten Diskant; irgendein Wort zu wechseln, war nicht möglich. Unter ihnen bebte das Haus in den Grundfesten, es schwankte, als wollte das Meer gleich die gesamte Insel auf seinen Rücken heben. Der Blanke Hans war los!
Das Meeresungeheuer der Uthlande.

In das ohrenbetäubende Heulen mischte sich ein gewaltiges Rauschen, danach ein Prasseln. Wind und Meer hatten sich vereint, bereit zum Ansturm auf die Insel.
Nun kam alles auf den Deich an - hielt er den Wassermassen stand? Wie hoch würde die Flut noch steigen? Der Wasserschwall würde sich über die Deichkrone ergießen, über die Häuser, alles Leben mit sich fortreißen ...

Sollte sie beten? Nur wenige Male hatte sie mit Hauke die Kirche besucht, fand die Predigt dort aber befremdlich. Wenn Gott die Liebe selbst war, warum hatte sie es auf diese Nordseeinsel verschlagen, ohne Vater und Mutter? Hauke betete nie, niemals war ein „Jiisus Krast" über seine Lippen gekommen.

Sie sah zu Hauke hinüber. Im Halbdunkel funkelten seine Augen, er saß in gespannter Haltung da, wie zum Sprung bereit. Sie richtete sich gleichfalls auf. Nein, so schnell würde sie sich nicht aufgeben!
„Hau ab, blanker Hans, lass' uns in Frieden", flüsterte sie halblaut vor sich hin; wiederholte in Gedanken den Satz unablässig wie eine Litanei.

Das Haus ächzte und zitterte, als sei es ein Lebewesen. Der Orkan pfiff und rüttelte am Dach, von der Seeseite her kam ein Brüllen. Die Zeit war wie ausgelöscht, es gab nur noch das Jetzt. Ein endloses Jetzt im Wüten der Elemente ...

Irgendwann aber schwächte sich das Heulen zu einem Jaulen ab, das wilde Tosen milderte sich zu einem gleichmäßigen Rauschen, das furchtbare Krachen hörte nach und nach auf. Wich der Blanke Hans endlich zurück?

Sie harrten aus, bis die entsetzlichen Geräusche draußen verebbt waren.
Hauke erhob sich schwerfällig, hängte die Leiter wieder ein und stieg hinunter.

Lorena, zitternd und bebend am ganzen Körper, rührte sich nicht von der Stelle. Das Gebrause hallte in ihr nach, ihre Ohren waren wie taub. Ihr graute davor, ihm zu folgen und die Zerstörung in Augenschein zu nehmen. Eine Weile wollte sie warten, eine kleine Weile noch ...

„Komm' ‚runter!", erscholl Haukes Stimme. Sie klang gedämpft; anscheinend befand er sich draußen.

Da endlich rappelte sie sich auf und kletterte nach unten. Was mochte sie erwarten? Der Weltuntergang bestimmt nicht, das Haus steht ja noch, redete sie sich Mut zu.

Gefasst betrachtete sie die Bescherung: in der Stube war alles verwüstet, waren die wenigen Möbel durcheinandergeworfen, Schüsseln und Teller vom Regal wie von einer riesigen Hand heruntergefegt und in tausend Scherben zerschmettert. Nichts, aber auch gar nichts stand mehr an Ort und Stelle. Auf dem gesamten Boden verteilt gluckste grauer Schlamm. In einer Ecke gackerte verwirrt ein Huhn; offenbar wusste es selbst nicht, wie es hineingekommen war. Ein Geschenk vom Blanken Hans?

Lorena drehte sich um und lief hinaus.

Am Rand der Warft stand Hauke mit hängenden Armen. Seine Gesichtsfarbe war genauso grau wie der Himmel, die Lippen blutleer, die Augen blicklos. Er sah aus wie ein Geist. Sie erschrak. Was war bloß mit ihm los? Sie warf einen schnellen Blick um sich ... die Wiesen, wie niedergemäht, tauchten aus dem Wasser langsam wieder auf, bis auf die herausgerissene Tür und die Fensterläden schien das Haus unbeschadet geblieben zu sein, sie selber waren mit heiler Haut davongekommen - und er sah aus wie vernichtet! Offenbar wurde Hauke wirklich langsam alt. Sie wollte ihn trösten und begann: „Der Deich ..."

„... hat gehalten, joh", brummte er. Zornig stieß er mit dem Fuß gegen die verstreuten Trümmer. „Aber es hat nicht mehr viel dazu gefehlt ... wie früher ... Tod und Verderben über uns ..."

Sie horchte auf. Tod und Verderben waren hier nichts Neues, aber ... „Wie früher? Über euch?", hakte sie nach.
Er versteinerte. Ein Zucken lief über sein Gesicht.

🌊Der Stern des Meeres🌊*WattyWinner 2019*Unde poveștirile trăiesc. Descoperă acum