Lieb mich nochmal

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Nachdem er das massive Eisentor geöffnet und hinter sich gelassen hatte, fuhr er die verwinkelte Auffahrt hinauf, als sei es das Selbstverständlichste der Welt. Genau genommen war es das bis vor über einem Jahr auch gewesen. Jeden Tag, jeden Abend, genau dreiundzwanzig Jahre. Aber die Papiere, die neben ihm auf dem Beifahrersitz lagen, bewiesen einmal mehr, dass diese Zeit lange vorbei war. Wie hatte es nur soweit kommen können? Zu oft hatte er sich darüber das Hirn zermartert, doch eine wirklich zufriedenstellende Erklärung hatte er bis heute nicht gefunden. Irgendwann waren aus zwei Liebenden nur noch Eltern geworden, nur noch gute Freunde, die morgens gemeinsam frühstückten, abends schweigend am Sofa saßen und in den Fernseher starrten, um später Rücken an Rücken in ihrem Ehebett einzuschlafen, das schon lange keines mehr war. Und irgendwann war schlichtweg der Punkt Null erreicht, an dem es einfach nicht mehr weiterging. Jegliche Leidenschaft war verschwunden, gefressen vom Grau in Grau des Alltags.


Vor der Doppelgarage stellte er den Motor ab und parkte direkt neben ihrem Auto. Der Regen prasselte mit lauten Klopfgeräuschen auf die Windschutzscheibe seines Jeeps, während er alles zusammensuchte, was er brauchte, um es in einer Mappe zu verstauen, damit es nicht nass wurde. Dann stieg er aus, rannte die letzten Meter bis zur überdachten Haustür und ließ seine Hand völlig außer Atem auf den Klingelknopf krachen. Mit seinen fast achtundvierzig Jahren war er körperlich gesehen kein junger Mann mehr. So manches Mal schmerzte das eine oder andere Gelenk und die Anzahl der grauen Haare hatte die der blonden längst überschritten, aber was spielte das schon für eine Rolle? In seinem Herzen war er immer jung geblieben.


Während er wartete, betrachtete er den am Boden stehenden, fein säuberlich ausgehöhlten Kürbis, in dessen Schale eine schaurig gruselige Grimasse eingeschnitzt war. Ein Lächeln huschte über seine Lippen. Manche Dinge änderten sich eben nie. Früher hatte er ihrem Zwang, zu jedem Anlass gebührend dekorieren zu müssen, nichts abgewinnen können, aber es war eines der Dinge, die sie ausmachten. Solange er denken konnte war sie es gewesen, die ihr gemeinsames Haus zu ihrer aller Zuflucht gemacht hatte. Ein Ort, zu dem sie alle heimkehren konnten, wenn das Leben hektisch und die Tage stressig waren. Nur für ihn gab es nun kein Zurück mehr ... zu viel war passiert ... zu viel war nicht passiert.


Als sich auch nach fast zwei Minuten niemand rührte, klingelte er noch einmal. Erst dann ging das Licht an und der Flur war bereits hell erleuchtet, als sich die Tür vor ihm öffnete. Er war nicht überrascht, dass ihn heute keine seiner Töchter begrüßte. Vermutlich waren sie auf irgendeiner angesagten, megahippen Halloweenparty irgendwelcher Freunde. Manchmal konnte er gar nicht glauben, dass sie den Kinderschuhen von einst entwachsen waren, den gemeinsamen Urlauben, den Grillabenden im Garten. Aus seinen beiden Mädchen waren zwei erwachsene Frauen geworden.


Von drinnen erklang leise Musik und lenkte seine Aufmerksamkeit zurück zu der Frau, die ihn überrascht ansah. Sein Besuch kam unerwartet und er vermutete, sie hatte wieder einmal laut mitgesungen und dabei sein Klingeln überhört.


»Christian?«, flüsterte sie. Auf der Stelle fanden ihre Augen die Mappe, die er fest in seinen Händen hielt.


»Der Scheidungsantrag! Kam heute mit der Post vom Anwalt«, beantwortete er ihre stumme Frage und hielt ihr das Schriftstück entgegen, aber sie machte keinerlei Anstalten, es ihm abzunehmen. »Du musst nur noch unterschreiben, damit ich ihn abgeben kann.«


»Komm rein«, seufzte sie leise, blickte zu Boden und trat beiseite. Wortlos folgte er ihrer Aufforderung. Die Stimmung war wie immer, wenn er auftauchte, zum Zerreißen gespannt. Unausgesprochene Emotionen und verletzte Gefühle schwebten in der Luft wie ein tödliches Gemisch, das jederzeit zu einer gewaltigen Explosion führen konnte, es aber nie tat. Sie hatte es heruntergeschluckt, die Enttäuschung, den Schmerz, ihre Wut, und die im Raum stehenden Vorwürfe. Wie oft hatte er sich gewünscht, dass endlich alles aus ihr herausplatzte, dass sie ihren aufgestauten Emotionen Luft machte, dass sie endlich wieder anfangen würde, zu fühlen und ihn als Mann wahrzunehmen. Aber stattdessen hatte sie geschwiegen, selbst als er ihr mitgeteilt hatte, dass er sich trennen wollte, weil eine neue Frau in sein Leben getreten war. Es wäre ihm niemals eingefallen, sie zu betrügen. Dafür respektierte er sie zu sehr. Nein, er hatte es ihr gesagt, noch lange bevor zwischen Alex und ihm irgendetwas vorgefallen war. Er hatte ihr die Chance geben wollen, es zu verhindern und zu kämpfen, wie er gekämpft hatte. Aber nichts dergleichen geschah. Nun war der Zug endgültig abgefahren und die Sache nahm ihren Lauf. Die Trennung verlief reibungslos, in beiderseitigem Einverständnis, wie man so schön sagte. Er hatte ihr das Haus überlassen, das ihr beider Hände einst in jahrelanger Zusammenarbeit gebaut hatten. Er zahlte vorbildlich seinen Unterhalt und die Mädchen, die er regelmäßig besuchte und abholte, wohnten weiter bei ihrer Mutter.

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⏰ Last updated: Sep 06, 2018 ⏰

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