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Ich mag es, alle Blicke auf mich zu ziehen. Die meisten Leute hier sind total heruntergekommen und einfach nur Drogenjunkies; viele leben auf der Straße. Wenn sie mich in den Club stolzieren sehen, hören sie auf zu reden und betrachten mich mit einem solch ehrfürchtigen Blick, als sei ich eine Königin. Schön, reich, und vor allem: unabhängig. Ich bin alles, was sie sein wollen. Viele kommen zu mir an und wollen mein Geheimnis wissen - wie ich schon seit fünf Jahren drücken könnte, ohne süchtig zu werden oder krank davon zu werden.
„Selbstdisziplin", antworte ich dann immer. Etwas, was Heroinabhängige niemals genug aufbringen können würden. Es mag vielleicht gemein erscheinen, dass mir dieser Neid eine gewisse Genugtuung bereitet; aber nun, was soll ich sagen? Ich bin nun mal gerne die Beste. Aus der Sicht der Götter wird nie jemand an Phoebe herankommen, was mir doch ziemlich zu schaffen macht. Dann rufe ich mir immer in Erinnerung, dass Phoebe ja auch im Gegensatz zu mir mit ganzem Herzen dabei ist, während ich manchmal noch Mitleid empfinde und mein Tun infrage stelle.
Doch sobald ich den Club betrete, denke ich nicht mehr an meine Schwestern. Ich denke nicht mehr an die Götter, an das Morden, an die Leere. Der Club ist wie eine andere Welt für mich.
Sobald man eintritt, wird einem bereits leicht der Verstand benebelt, von alldem Rauch, der seit Jahren in der Luft hängt, da niemals irgendwie gelüftet wird oder so. Der Club befindet sich unterirdisch von New York und ist bei den heruntergekommenen Abhängigen wohl sehr beliebt.
Er nennt sich „70's Berlin" und hat, wie der Name bereits sagt, das Berlin der Siebziger Jahre als Motto. Sie spielen hier viel von David Bowie. Ich mag diese Art von Musik, denn wegen dem Club assoziiere ich sie immer mit Freiheit und Glücklich sein.
Als ich heute eintrete, dröhnt mir V-2 Schneider von Bowie entgegen.
„Aurora.", begrüßt mich Fred, einer der Dealer. Er lehnt immer an der Wand und betrachtet das Geschehen, stets eine Hand ängstlich auf seiner Bauchtasche, die voller Drogen ist. Ich frage mich, wovor er immer so eine Angst hat; in den fünf Jahren, in denen ich immer hierher komme, wurde noch nie eine Razzia oder ähnliches durchgeführt.
Fred senkt seinen Blick schüchtern und kratzt sich am Hinterkopf. Mein Auftreten schüchtert ihn jedes Mal ein.
„Dasselbe wie immer?", murmelt er leise und wirft mir einen kurzen, scheuen Blick zu. Ich nicke und blicke von oben auf ihn herab. Dieses Machtgefühl ist berauschend.
Fred schiebt seine langen weißen Finger in seine Tasche und zieht ein kleines Päckchen heraus - ein Gramm Heroin. Die Tatsache, dass ich immer so viel drücke, dass man eigentlich davon sterben müsste; und immer noch hier stehe, mit gesundem Körper und einem hübschen Gesicht, verunsichert ihn noch mehr.
Er reicht mir das Päckchen, wobei er darauf achtet, dass unsere Finger sich nicht berühren. Ich stecke es ein und reiche ihm einen 50 Dollar Schein, den er rasch in seiner Tasche verstaut und sich anschließend wieder mehrmals umsieht.
„Drückt die doch niemals alles allein weg.", höre ich jemanden von der Seite murmeln. Bei der lauten Musik hätte ich es eigentlich nicht hören sollen, und für gewöhnlich tat ich auch stets so, als besäße ich ein normales Gehör, aber diesmal nicht. Ich bin gereizt und genervt. Mein Kopf fährt herum zu der Person - es ist ein Junge, in meinem Alter ungefähr. Mit einem Bier in der Hand lehnt er mit einer Gruppe Jungs an der Wand und sieht zu mir herüber. Der Rest der Gruppe senkt augenblicklich die Köpfe und weicht vor mir zurück, als spürten sie schon, was für ein Monster ich war. Nur er nicht.
„Entschuldigung?", frage ich ihn und stelle mich gerade vor ihm auf. Er neigt den Kopf, kein bisschen verwundert, dass ich ihn gehört habe. „1 Gramm - das überlebst du nicht.", sagt er. Ist das etwa Besorgnis, die sich in seinem Blick spiegelt? Ich habe ihn noch nie hier gesehen.
„Caleb, lass gut sein.", murmelt einer seiner Freunde und macht Anstalten, ihn von mir weg zu zerren.
„Vielleicht bin ich nicht wie ihr.", sage ich überheblich und ziehe meine Augenbrauen hoch. Wo bleibt der Neid, die Ehrfurcht, die Untergebenheit?
Calebs Blick lässt nicht von meinem ab. Etwas in seinen braunen Augen strahlt eine Art von Verständnis und Toleranz aus, und augenblicklich wird mir ein wenig wärmer.
„Überschätze dich lieber nicht. Das Zeug ist gefährlich.", sagt er. Doch wie er es sagt, klingt es nicht schnippisch, sondern ehrlich besorgt. Als versuche er nur, hilfsbereit zu sein.
In mir regt sich der Drang, zu töten. Das ist immer gleich mein erster Reflex, wenn mir ein Mann auffällt - ihm etwas ins Ohr zu säuseln, mit mir rauf aufs Meer zu ziehen und in den Tod zu singen.
Ich bin kurz davor, einen Schritt vorzutreten und ihm ein leises Lied einzuflößen, da legt er eine Hand auf meine Schulter und sagt: „Ehrlich, du solltest wirklich aufhören, bevor du abhängig wirst. Wenn du dich einsam fühlst, gibt es so viele Wege, bessere Wege." Seine warme Stimme klingt so einfühlsam; und es scheint, als würde er mich so gut verstehen, obwohl er mich gar nicht kennt. Zwei Sekunden lang bin ich ein wenig verdattert, so viel Wärme und Verständnis zu bekommen. Noch nie war ein Mann daran interessiert gewesen, wie es mir ging; wie ich mich fühlte. Noch nie in meinem ganzen Leben hatte mir jemand Trost spendend seine Hand auf die Schulter gelegt. Ich hatte sie alle vorher umgebracht.
Caleb zieht eine Grimasse und fährt sich durch seine dunkelbraune Leonardo-DiCaprio-Frisur. „Psychologiestudium.", erklärt er ein wenig verlegen und grinst. Auf eine merkwürdige Art und Weise finde ich diesen Menschen interessant.
Er löst etwas in mir aus; als wäre ich unter Wasser und würde nach langer Zeit die Oberfläche wieder sehen.
„Du scheinst sprachlos zu sein.", stellt er fest und tritt einen Schritt zurück. „Scheint, als hätte ich genau ins Schwarze getroffen." Sein Grinsen verschwindet und sein Blick wird ernst. Seine Freunde haben sich bereits weiter zurück gezogen.
„Du bist einsam, nicht wahr?", sagt er nun etwas leiser, als wolle er respektvoll sein, dass es nicht jeder mitbekommt. Mein Mund fühlt sich trocken an, als ich nicke.
Noch nie hat das jemand ausgesprochen, geschweige denn sich so um mich gesorgt.
„Woher zur Hölle weißt du das?", zische ich und presse die Lippen zusammen. Hat er irgendeinen Zauber auf mich ausgeübt?
Er zuckt mit den Achseln. „Bin wohl ein guter Student." sagt er und das schiefe Grinsen ist wieder da. „Ich will dir nicht zu nahe treten. Auf deiner Seele scheint einiges zu lasten." Er mustert mich, als könne er das anhand meiner Körpersprache feststellen.
„Falls du einen Rat brauchst: ich denke, du solltest mit den Drogen aufhören. Und mal jemandem alles erzählen, was dich bedrückt. Jemandem, der dich versteht und für dich da sein wird. Glaub mir, man wird oft mehr geliebt, als man denkt."
Ich winde mich innerlich. Dieser Mensch hat in diesem kurzen Augenblick auf meine dunkle Seele geblickt, von der niemand weiß. Wieder überlege ich, sein Leben zu beenden und wieder davonzulaufen, high zu sein und alles zu vergessen. Doch etwas in mir regt sich - als könnte ich ihn nicht umbringen. Als würde ich es nicht übers Herz bringen, die Erde dieses guten und liebenswürdigen Menschen zu berauben. Das ist es, was ich komisch finde; was mir noch nie passiert war - ich sehe ihn als Menschen, nicht als Mann, der grundsätzlich nur Leid verursacht. Bei ihm kann ich mir einfach nicht vorstellen, dass etwas Böses in ihm ist. Man hatte mich mein ganzes Leben lang belehrt, dass in jedem Mann etwas Böses steckte; und ich hatte noch keinen richtig kennengelernt, um es zu beweisen. Die Männer, die unsere Familien zur Fortpflanzung nutzen, stammen alle von den gefangenen Untertanen von Hades ab, der Persephone einst vergewaltigte, außer meinem Vater; er ist ein Halbgott und stammt von Poseidon ab. Er ist unsterblich und der Vater von allen Sirenen in meiner Familie. Generell ist Poseidon uns irgendwie verbunden, so wie wir beide die Verbundenheit zum Meer teilen.
Also insgesamt verüben wir die blutrünstigen Rachevorstellungen von Demeter, Persephones Mutter, und ihr ihren Verbündeten an den Untertanen von Hades und generell an der männlichen Spezies. Ich weigere mich, über den Sinn von alldem nachzudenken, aus Angst, den Zorn der Götter auf mich zu lenken.
Doch in diesem Moment tue ich es - ich hinterfrage den Sinn von allem, was man mir beigebracht hatte.
Und wenn dafür schon ein einziger Mensch ausreicht, brauche ich dringend einen Druck.
Ich schüttele den Kopf, trete von ihm zurück und verschwinde zu den Toiletten. Dieser Typ ist mir emotional viel zu nahe gekommen. Ich sollte ihn vernichten, bevor er noch Schlimmeres in mir auslöste.
Jeden Monat muss ein Mann sterben. Diesen Monat, April, hatte ich meine Pflicht bereits erledigt. Nächsten Monat würde Lorraine wieder an der Reihe sein. Ich konnte mir schon vorstellen, wie sie sich darauf freute, als sei es ein lustiges Abenteuer. Mit einem Leuchten in den Augen berichtet sie uns immer von den schmerzerstickten Schreien ihrer Opfer.
Ich bin immer ganz kalt, wenn es um das Ritual geht. Ich tue so, als wäre es nur eine Nebensache in meinem Leben, wie eine Arbeit, die ich eben tue.
Phoebe ist so energisch, sie plant ihr Ritual immer mehrere Wochen; sie wählt ihr Opfer ganz gezielt aus und strukturiert ihren Mord immer genau. Wenn sie uns von ihren Planungen erzählt, ist es, als würde sie ein Referat planen. Eifrig, und nervös, ob den Göttern ihre Darbietung gefallen würde.
Thalia tötet ihr Opfer bereits in ihren Tagträumen. Wenn sie in die Luft sieht, und ich sie frage, woran sie denkt, lächelt sie und erzählt mir ganz ruhig von ihren Vorstellungen. Oft sieht sie sich Horrorfilme an und lässt sich etwas inspirieren. Ihr gefällt es am meisten, die verzweifelt  Panik in den Augen der Männer zu sehen. „Das macht mich einfach ganz friedlich. Diese Arbeit erfüllt mich einfach.", sagt sie dann immer.
Ich nicke dann oft zustimmend, als würde ich genau dasselbe empfinden. „Es ist wohl ganz entspannend, nicht wahr?", stimme ich immer zu, mit einem verkniffenen Lächeln, das hoffentlich aufrichtig wirkt.

Ich sitze auf dem Klodeckel und fühle mich ein wenig, als würde ich durchdrehen. Es ist, als würde mein Körper in kleine Teile zerspringen. Dieser Caleb hat mich ganz durcheinander gebracht.
Ich bereite gerade meinen Schuss vor, da klingelt mein Handy. Ich seufze, lege den Löffel mit der Mixtur vorsichtig auf dem gefliesten Boden ab und gehe ran - es ist Ashley, meine Beschützerin. Meine Schwestern und ich haben nämlich auch Feinde. Götter, die mit Demeters Rachevorstellungen nicht einverstanden sind und uns stoppen wollen, wie Venus und Amor. Manchmal schicken sie sogar ganze Armeen von Halbgöttern auf uns los, um uns aufzuhalten, doch unsere Kräfte sind enorm, wie die der von den Göttern auserwählten Protectors. Sie stammen aus Familien, die den Göttern immer untergeben und treu waren und schon vor langer Zeit ihre Dienste verrichtet haben. Mein Protector ist Ashley. Sie ist auf eine bestimmte Art mit mir verbunden, aber anders als meine Schwestern. Sie kann meinen Aufenthaltsort aufspüren und spüren, wenn ich starke Emotionen verspüre. Außerdem ist sie unfassbar stark, schnell und clever. Ihr ganzes Leben wurde sie dazu ausgebildet, mich zu beschützen, wie ich dazu ausgebildet wurde, Menschen zu töten. Ich meine, Männer, die allesamt etwas Böses in sich tragen.
„Ist alles in Ordnung?", fragt sie, sobald ich den Anruf angenommen habe. Ich schließe die Augen, die Spritze in meiner Hand. „Ja. Wieso?", frage ich dümmlich, als hätte ich von meiner starken Stimmungsschwankung gar nichts mitbekommen. „Nun, ich fühle Unbehagen und Angst. Steckst du in Gefahr?", fragt sie weiter. Angst? Ich habe keine Angst, vor niemandem. Sie muss sich vertan haben.
„Wovor sollte ich Angst haben?", frage ich zurück und betrachte die silberne Nadel. Ich stelle mir vor, wie sie sich in meine Vene bohrt und die Euphorie durch meine Adern pumpt. Einen ganzen Gramm nehme ich wirklich nur an schlimmen Tagen. Das haut mich wirklich immer komplett weg. Wäre ich ein Mensch, würde ich das nicht überleben. Ein Gramm ist bei ihnen der goldene Schuss - den, den man sich setzt, wenn man sein Leben beenden möchte. Ich bemitleide sie, dass sie den 1-Gramm-Flash niemals erleben werden können.
Eine Weile herrscht Stille am anderen Ende der Leitung. „Du bist wieder in diesem Club.", stellt Ashley fest. „Ich habe meinen Spaß.", antworte ich ausweichend. Ich mag es nicht, wenn sie sich so kontrollierend verhält, als wäre sie meine Mutter. Ich weiß, das ist ihr Job, aber es nervt mich wirklich zu Tode. Mein Gott, ich bin eins der mächtigsten Wesen der Welt; ich kann mich wohl selbst verteidigen. Ich frage mich, ob die Protectors jemals sinnvoll eingesetzt werden mussten. Ich mag Ashley ja, aber ich weiß, wie neidisch sie auf mich ist, und dass sie mich auch deswegen ein wenig zu sehr kontrollieren will. Ich kann nur den Kopf schütteln, wenn ich an diesen Neid denke. Ich bin eine verdammte Mörderin, und sie will so sein wie ich.
Ich kann ihre Stimme nicht mehr hören, also lege ich auf, schalte das Handy aus und widme mich dem Heroin.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Sep 01, 2018 ⏰

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finding the light - a siren's storyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt