Alter Freund

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„Darum willst du mich jetzt hier im Wald erschiessen?" Die wenige Sicherheit von gerade eben ist wie vom Winde verweht. Elias schüttelt langsam den Kopf und grinst wieder dieses freudlose Grinsen.

„Nein. Das wäre viel zu einfach. Du hast keine Ahnung, wo wir sind, nicht wahr? Folge den Felsen ein wenig mehr nach Norden und versuch nicht, wieder wegzulaufen. Nächstes Mal, wenn ich schiesse, treffe ich. Los!" Mit dem Revolver deutet er die Richtung an und widerwillig gehorcht ihm Kilian. Er fühlt sich nicht wohl, mit dem Rücken zu Elias vorzulaufen. Er muss ihm vertrauen, dass er noch immer seine Ehre besitzt und niemanden hinterrücks erschiesst. Der anstrengende Marsch durch noch mehr Unterholz und über Felsen führen sie zurück auf einen Pfad. Bereits nach einigen Schritten durchfährt ihn der Schreck. Diesen Weg kennt er nur zu gut. Wie angewurzelt bleibt er stehen.

„Lauf", befiehlt Elias ruhig. Der zweite Schuss verfehlt seinen Fuss nur um eine Handbreit. Er zuckt zusammen und geht widerwillig weiter. Die Hütte. Er bringt ihn zur Hütte. Zu Evelyn und den Kindern. Beim ersten Gerücht über Elias' Rückkehr hat er sie davon überzeugen können, dass ein paar Tage abseits des Trubels den dreien guttun würde. Bis dahin wollte er alles erledigt, alle Spuren verwischt und eisernes Schweigen verlangt haben.

„Ich bin seit einiger Zeit zurück, Kilian. Und ich habe dich beobachtet. Ich selbst war es, der die Gerüchte in Umlauf gebracht hat. Dachtest du, dass sie es nie erfahren würde? Du hast dich getäuscht." Ein paar Lichter brennen, das sieht er schon vor Weitem. Selbst der dichte Regenschleier kann das nicht verbergen. Ihm selbst ist sämtliches Zeitgefühl abhandengekommen.

Mit jedem Schritt, den sie sich der Hütte nähern, wächst die Angst. Sie breitet sich immer weiter aus, lässt die Adern gefrieren und sein Herz unregelmässig schlagen. Langsam öffnet er die Tür zu seiner Waldhütte. Die Wärme des Kamins schlägt ihm ins kalte, schmutzige Gesicht und im Spiegel, der direkt neben der Garderobe erhascht, sieht er seine eigenen, angsterfüllten Augen. Wie ein Kaninchen vor einer Schlange. Die sonst immer ordentlichen, schwarzen Haare hängen in nassen Strähnen über das blutverschmierte Gesicht.

„Evelyn? Liebling, bist du noch wach?", ruft er zittrig ins Innere. Keine Antwort. Vielleicht ein gutes Zeichen. Hier gibt es genug, womit er sich wehren kann. Elias schliesst hinter ihnen die Tür und drängt ihn weiter.

„Setz dich. Das Gewitter wird bald etwas nachlassen", ordnet Elias an. Er muss gehorchen. Die tickende Wanduhr verrät ihm, dass der Morgen bereits angebrochen ist. Sein alter Freund setzt sich direkt ihm gegenüber in seinen Lieblingssessel.

„Du wartest auf das Ende des Gewitters?", fragt er vorsichtig. Elias schweigt. Stattdessen holt er aus der Innentasche etwas hervor. Eine Zigarette. Das Streichholz entflammt, entzündet das Ende der Zigarette und wird achtlos auf den teuren Teppich fallengelassen. Ein abgenutzter Stiefel erstickt die kleine Flamme. Lange müssen sie nicht warten. Aus dem hinteren Teil der Hütte sind Geräusche zu vernehmen. Jemand kommt.

„Kilian? Liebling, bist du das? Was machst du um..." Die hübsche Frau in ihrem weissen, weiten Nachthemd will nicht ganz in die illustre Szene passen, die sich ihr beim Kamin bietet. Sie erstarrt mitten im Schritt und sieht die beiden Männer ungläubig an.

„Du", wispert sie und wird beim Anblick von Elias kreidebleich. „Du lebst?"

Die Hand, welche die Zigarette festhält, macht eine vage Bewegung. „Sieht ganz so aus. Weck die Kinder, Eve." Sie ist unfähig, sich überhaupt zu bewegen. Genervt seufzt Elias auf.

„Wenn du die Kinder nicht holst, dann schiesse ich."

„Darling, hol bitte die Kinder", bittet Kilian sie und sie nickt schwach. „Egal, was du planst, verschone bitte meine Kinder!", fleht er jetzt den Tränen nahe. Elias erspart sich selbst diese Antwort.

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