2. Überlebensstrategien

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»Jetzt steh endlich auf, Garrett! Du kommst mal wieder zu spät!«

Lautes, energisches Hämmern sorgte dafür, das der Junge seine müden braunen Augen öffnete und einen Moment auf seine Zimmertür starrte.

Es war ein Wunder, das seine Mutter es noch nicht geschafft hatte, diese mit ihrer Klopperei zu zertrümmern.

Seufzend setzte er sich auf und strich sich die langen Haare aus dem Gesicht. Nach einer Dusche, die verbunden war mit einem lauten Fluch, weil er sich den Zeh an dem Waschbecken stieß, schlurfte er schließlich in die Küche des kleinen, rustikalen Hauses.

»Hier, nimm ein paar Pancakes. Ohne Essen gehst du mir nicht aus dem Haus, Junge. Du wirst immer dünner.«

Garrett brummte nur und setzte sich.

Mit seiner Mutter zu diskutieren, war etwas, das er aufgegeben hatte. Sie redete ihn in Grund und Boden und hörte sowieso nicht auf seine Argumente.

Während er kaute und das warme Sirup auf seiner Zunge zerging, blickte er aus dem Küchenfenster und musste lächeln. Er liebte die Sicht auf den dunklen Wald, durch dessen dichte Bäume sich sanfter und wattiger Nebel zog. So vertieft in den einzigen Ort in seiner Heimatstadt, an dem er sich wirklich wohl fühlte, bemerkte er nicht, das seine Mutter ihm eine Frage gestellt hatte. Er setzte einen entschuldigenden Blick auf.

»Sorry, was hast du gesagt?«

»Mensch, Garrett! Wo hast du nur deinen Kopf? Ich habe gefragt, ob es sein muss, das du dich noch immer so anziehst? Die Leute denken, du trägst Trauer und muss dieses Piercing wirklich sein?«

Garrett seufzte.

Seine Mutter hatte sich nie damit anfreunden können, das er den Gothic-Stil für sich entdeckt hatte. Sie schob seine Veränderung auf seinen Vater, der die Familie verlassen hatte, als Garrett 13 war. Und tatsächlich war dieser seit diesem Zeitpunkt nicht mehr beim Friseur gewesen, kleidete sich schwarz und trug mehr Schmuck als manches Mädchen. Das Piercing, an dem sich seine Mutter besonders anstieß, durchbohrte seine Unterlippe und war seine neuste Errungenschaft.

»Mum, ich bin 18. Ich brauche deine Erlaubnis nicht, um mich piercen zu lassen. Mir gefällt es.«

Seine Mutter betrachtete ihn zweifelnd. Sie sprach nicht aus, das Garretts Andersartigkeit der Grund war, warum er in Gatwick kaum bis keine Freunde hatte.

Der Junge hingegen beendete das Frühstück, schaltete seine Ohren auf Durchzug und packte seine Sachen zusammen.

Er wusste, das seine Mutter ihn ebenso für einen Freak hielt wie die anderen Stadtbewohner, doch die meisten betrachteten ihn als freundlichen, höflichen Jungen. In der Schule sah das natürlich anders aus.

Garrett verstaute seine kleine Kamera in dem Rucksack, schulterte ihn und verließ nach einem letzten Gruß an seine Mutter das kleine Haus am Stadtrand.

Der milde und würzige Duft des im Morgenwind leise säuselnden Mischwaldes hüllte ihn ein und er schloss einen Moment die Augen. Sehnsüchtig blickte er sodann in die grünen Weiten, die sich über die Hänge des Tales erstreckten, in welches sich Gatwick einschmiegte. Er sehnte sich danach, einfach in sie einzutauchen, die Schule sausen zu lassen und sich in der Stille des Waldes zu verlieren und mit seiner geliebten Kamera Foto um Foto zu machen.

Doch das war nicht möglich.

Immerhin hatte seine Mutter erst vor 14 Tagen ein unschönes Treffen mit Mr. Whitcomb, dem alten Schulleiter der Gatwick Comprehensive School, an der Garrett nun das letzte Schuljahr besuchte.

Dieser hatte von Garretts Angewohnheit berichtet, häufiger mitten am Tage zu verschwinden und Stunden zu schwänzen oder ganze Tage nicht in der Schule zu sein. Die Diskussion zwischen Mutter und Sohn am darauffolgenden Abend war entsprechend alles andere als amüsant. Sie hatte ihm gedroht, ihm seine geliebten Kameras und den Laptop wegzunehmen und damit hatte sie ihn in der Hand, das wusste sie.

Seufzend wandte er sich ab, schob sein Fahrrad aus dem Garten und radelte zügig durch das Städtchen auf die Schule zu.

Der Name ließ mehr erwarten als es letztlich war. Die Schule, die Kinder und Jugendliche vom11. bis 18. Lebensjahr durch die Mittel- und Oberstufe bis zum Abitur führte, war kaum größer als ein Mehrfamilienhaus. Einst war es das Gerichtsgebäude der Stadt, was dem alten Backsteinhaus aus roten Ziegeln einen altmodischen Charme verlieh.

Doch letztlich war es nichts Besonderes, da alle Häuser der Stadt ziemlich alt waren. Und es kamen auch kaum neue dazu, denn wer würde schon ausgerechnet in Gatwick leben wollen?

Garrett schloss sein Fahrrad an.

Ihm war es recht. Er mochte die Ruhe der Stadt und war nie jemand, der Gefallen an ausschweifenden Partys und dem Lärm von Großstädten hatte. Es reichte ihm, zweimal im Monat das Wochenende bei seinem Vater in London zu verbringen. Dies waren stets zwei Nächte, in denen er wegen des Lärms kaum Schlaf fand.

»Hey, Pinky, du bist ja heute so farbenfroh gekleidet?«

Garrett verdrehte auf dem Weg ins Schulgebäude die Augen, als die Stimmen seiner hochintelligenten Mitschüler in sein Ohr drangen. Oh, wie waren sie einfallsreich und witzig, aus seinem Nachnamen Pinkerton den Spitznamen „Pinky" zu machen... er würde sich noch nass machen vor lauter Spaß!

Er verfiel erneut in seine übliche Strategie, um diesen Zirkus zu überstehen und stellte seine Ohren auf Durchzug. Immerhin war er es gewöhnt, von den anderen dumm angemacht zu werden, nur weil er anders aussah als sie.

Er war der einzige Junge an dieser Schule, dessen Haare ihm bis weit auf den Rücken fielen, er hatte schwarzlackierte Fingernägel, benutzte Eyeliner und achtete, auch wenn es nicht so aussah, sehr darauf, das alles an seinem Outfit zusammenpasste. Er hörte andere Musik als sie und hatte andere Hobbys.

Während seine Klassenkameraden sich am Wochenende oder nach der Schule trafen, um sinnlos abzuhängen, heimlich Bier zu trinken und schreckliche, moderne Tanzmusik hörten oder sich gegenseitig mit ihren Smartphones zu übertrumpfen versuchen, strolchte Garrett mit seiner Kamera durch seinen geliebten Wald, fotografierte interessante Insekten oder Blumen und stellte diese Fotos anschließend für seinen eigenen Fotoblog im Internet zusammen. Oder er saß in der kleinen Städtischen Bibliothek und las stundenlang Bücher über Okkultismus, düstere Legenden und Wesen der Nacht.

All das faszinierte ihn und machte ihn in den Augen der Mitschüler nur noch mehr zu einem Freak.

Müde und mit den Gedanken bereits im Wald, lehnte Garrett sich neben der Tür zum Klassenraum an die Wand und wartete, das es klingelte und der Lehrer kam.

»Oy, Nachtgespenst. Die Geisterbahn hat angerufen. Du sollst zurückkommen, denen ist ihr hässlichstes Monster abhanden gekommen.«

Garrett hob den Kopf nur leicht und musterte den Jungen vor sich.

Kyle Hastings.

Als sie Kinder waren, waren sie die besten Freunde. Doch daran schien sich Kyle nicht mehr zu erinnern. Ihre Freundschaft hatte Garretts Veränderung nicht überstanden.

Im Grunde kannte er alle Jugendlichen vor sich schon, als sie noch Windeln trugen, doch im Laufe der Jahre wurde eben ausgerechnet Garrett dazu ausersehen, der Außenseiter zu werden. Das Objekt des Spotts, der Häme und der Beleidigung. Er seufzte und ließ seine Mundwinkel zucken.

»Ein toller Spruch. Ist der dir ganz allein eingefallen?«

Kyle schnaubte und sein Blick zeigte deutlich, was er von seinem Gegenüber hielt.

»Schau dich doch an, du Freak.«

»Das sagst du? Du musst doch auch jeden Tag aufpassen, das sie dich nicht für's Affenhaus einfangen.«

Einige der umstehenden Mitschüler lachten über den Schlagabtausch, als es laut klingelte und ein kleiner bebrillter Mann den Gang entlangstürmte.

»Guten Morgen Leute. Schnell, schnell in den Raum, damit der Unterricht beginnen kann.«

Garrett folgte seinen Mitschülern als Letzter und ertrug den Unterricht nur, weil seine Gedanken durch die dunkelgrünen Schatten des Waldes schwelgten.

Wie gern würde er seine oberflächlichen Mitschüler und seine nörgelnde Mutter hinter sich lassen, einfach zwischen den Bäumen verschwinden und niemanden mehr hören und sehen müssen...

DIONYSOS I. ZufluchtWhere stories live. Discover now