Bis zum Anschlag

27 1 1
                                    

Kopfüber sprang ich ins kühle Nass unseres Pools. Ich tauchte unter und mit mir die ganze Erschöpfung des Schulalltags. Das Wasser plätscherte in meinen Ohren, während ich unzählige Runden drehte. Mein Körper führte von allein die gewohnten Bewegungen aus und immer wieder drehte ich den Kopf zur Seite, um die frische Luft tief in meine Lungen zu ziehen. Der Sauerstoff schenkte mir neue Energie und belebte jede einzelne Körperzelle. An meinen Händen hatte sich vom vielen Wasser schon bald eine richtige Fischhaut gebildet, trotzdem schwang ich meine Arme kräftig durch die kleinen Wellen. Ich spürte kaum, wie meine Füsse zappelten. Beinahe mechanisch schwamm mein Körper durch die flüssige, kühle Masse. Da berührte meine Hand die Wand, ich zog die Beine an, drehte und stiess mich kräftig ab. So schwamm ich ununterbrochen weiter, pausenlos, endlos. Ich bewegte mich stets im gleichen, schnellen Rhythmus vorwärts. Runde um Runde, rauf und runter.

Das Blut dröhnte in meinen Ohren, mein Herz pochte, mein Körper kam langsam an die Grenzen seiner Belastbarkeit. Alles immer auf Höchstleistung programmiert. Doch mein Verstand nahm all dies nicht wahr. Er konzentrierte sich nicht, war gar nicht richtig bei der Sache. Körper und Geist schienen sich langsam voneinander zu trennen.

Mein Kopf füllte sich mit Gedanken – unzähligen, stürmischen Gedanken. Sie sprangen hin und her, wild und ungezähmt, formten sich zu Silben, Wörtern und Sätzen. Wie Wellen schlugen sie über meinem Geist zusammen. Sie überrumpelten ihn. Gleichzeitig tauchte, wie ein pulsierendes Gewitter, immer wieder die Melodie eines aktuellen Liedes in meinen Gedanken auf. Dieser Ohrwurm verfolgte mich seit Tagen.

Viele tausend Bruchstücke von Erinnerungen und lauter unbeantwortete Fragen schossen mir durch den Kopf. Und diese verflixte Melodie brachte das Fass (sprich mein Gehirn) zum Überlaufen. Mein Haupt lud sich wie elektrisch auf, alles wurde ständig lauter, schneller, hektischer – in mir brach ein zerstörerisches Chaos aus. Ich fühlte mich, als ob man meine Gedanken wie bei einem Radio immer weiter aufdrehen würde. Es gab kein Entrinnen. Ich verlor jegliche Kontrolle, unfähig dem Ganzen ein Ende zu setzen, es zu stoppen. Der fürchterliche Lärm in meinem Inneren war kaum mehr auszuhalten. Mein Kopf drohte zu platzen und mein Gehirn zu bersten. Der Druck war enorm, riesengross... Bis zum Anschlag – Päng!

Stille. Es war seelenruhig. Kein Ton, kein Licht... Ich fühlte nichts mehr. Ich dachte nichts mehr. Ich war nicht mehr. Stille.


„Liebling", von ganz weit her hörte ich die zitternde Stimme meines Vaters. Er redete beruhigend und dennoch verzweifelt auf mich ein. Vorsichtig öffnete ich die Augen. Grelles Sonnenlicht drang durch die Spalten meiner zusammengekniffenen Lider und liess mich blinzeln. Ich hustete, drehte mich zur Seite und würgte chlorhaltiges Wasser hervor. Mein Kopf dröhnte wie die Motoren eines Flugzeugs. Stechender Schmerz breitete sich über meinen Schädel aus. Ich spürte, wie sich oberhalb meiner Stirn eine riesige Beule bildete. In mir brummte es gewaltig. Doch langsam kam ich wieder zur Besinnung.

Mein Vater zog mich vom Boden auf seinen Schoss und schenkte mir eine liebevolle Umarmung. „Was ist passiert?", fragte ich verwirrt.

„Psst, langsam... Ich habe dich gerettet. Du warst kurz ohnmächtig, als du im Pool mit dem Kopf gegen die Wand gestossen bist. Wie fühlst du dich?" Statt ihm zu antworten drückte ich mich noch fester an seine Brust. Es tat unheimlich gut, geborgen in seinen Armen zu liegen. Wie ein Kleinkind kuschelte ich mich an meinen Vater. Er spendete mir Halt. Seine Anwesenheit liess mich in meinem Innersten wieder ruhig werden.

„Du hast dir wohl zu viel zugemutet", sprach mein Vater ganz sachte auf mich ein. „Du musst nicht immer alles perfekt machen – nicht immer die Beste sein. Auch du brauchst einmal Ruhe und Erholung." Seine Worte regten etwas in mir. Meine Hektik legte sich allmählich und ich konnte meinem Vater zustimmen. Ich sah ein, dass es im Leben nicht nur um Leistung und Perfektion geht. Der Sinn liegt vielmehr darin, es auch zu geniessen. Ich zog die feuchte Sommerluft tief in meine Lungen. Langsam begann ich loszulassen vom alltäglichen Stress, dem ständigen Druck, den stets höher gesetzten Erwartungen. Ich liess alle Anspannung hinter mir.

Erst, als mein Vater mit dem Handrücken über meine Wangen wischte, wurde ich mir meiner Tränen bewusst. Sie kullerten ununterbrochen über mein Gesicht. Ich hielt sie nicht zurück. Jeder einzelne Tropfen, der aus meinen wässrigen Augen rann, wusch mich ein stückweit von meinen Alltagssorgen rein. Ich schluchzte und wimmerte nicht.

Es waren Tränen der Befreiung, die ich viel zu lange aufgehalten hatte.

Bis zum Anschlag Where stories live. Discover now