Sommer unter Segeln 1

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Lautes Lachen weckt sie, doch sie fühlt sich viel zu müde, um die Augen zu öffnen. Nicole Seiler erkennt die Stimme ihrer Schwester, verdreht innerlich die Augen und wünscht sich zum etlichsten mal in der letzten Woche, sie könne ihre Koje absperren. Genervt dreht sie sich auf die andere Seite und schlägt hart mit dem Kopf an die Wand. Gereizt öffnet Nicole ihre Augen und bemerkt, dass sie nun schon zum dritten Mal aus dem Bett gefallen sein muss und von Anna nur ausgelacht wird. Eine gewisse Komik hat die Situation schon und traurig denkt sie an Tamara, ihre beste Freundin, mit der sie sich jetzt vor Lachen gekrümmt hätte. Ihrer nervigen kleinen Schwester wirft sie aber lieber einen bösen Blick zu, steht auf, schnappt sich ihr Buch und geht an Deck des Schiffes. An Deck des Gefängnisses, denkt sie. Es ist wunderschön, das Meer der Adria, die Vögel, die Inseln, die Delphine und die Stille aber trotzdem fühlt sich Nicole gefangen. Sechs Wochen von einem Hafen zum nächsten, manchmal ein paar Tage länger anlegen und gerade wenn man sich mit den Jugendlichen aus den kleinen Dörfern befreundet hat, geht es auch schon weiter.
Über die knarzende Treppe geht sie an Deck um sich ins Cockpit zu setzen und in die Welt ihres Buches abzusinken. Nicole liebt es, zu lesen. Es sind kleine, eigene Welten, in die man sich vertiefen kann, um alles zu vergessen, aber heute funktioniert das nicht so richtig. Nach zwei Seiten gibt sie auf und entscheidet sich für eine Runde Joggen. Noch so eine Sache bei der sie alles um sich herum ausblenden kann. Umgezogen und mit der richtigen Musik sucht sie einen geeigneten Weg, aber bei der Hitze dreht sie nach einer Viertelstunde um und genießt die Stille, bevor die überschaubare Hafenstadt aufwacht und das Getümmel auf den Straßen beginnt. Nicole blickt auf die Kulisse des türkis-blauen Meeres und den malerischen Ort mit den kleinen Gassen und für den Moment ist sie wirklich glücklich. Bis es ihr auffällt und sie das Gefühl nicht mehr zulässt. Wie glücklich kann man schon sein, wenn man die kompletten Sommerferien lang mit seinen langweiligen Eltern und der 14 jährigen, nervigen Schwester auf einem Segelboot leben muss, auf dem alles immer salzig oder nass ist? Noch dazu ist zu Hause jeder auf den großen Partys, weil genau wie Nicole jeder 16 wird und das groß feiert. Jetzt wo ihre Stimmung wieder am Tiefpunkt ist, macht sie sich auf den Weg zurück ans Boot, mit der Hoffnung, ihre Eltern nicht an Deck zu treffen. Das Glück ist nicht auf ihrer Seite und zu allem Überfluss, soll sie jetzt auch noch fürs Frühstück einkaufen gehen. Beim Bäcker wendet sie deutsch, englisch und die paar Wörter kroatisch an, die sie in letzter Zeit aufgeschnappt hat und wird schon zum zweiten Mal an diesem Tag ausgelacht. Bereit ihren tödlichsten Blick anzuwenden dreht sie sich um, hält aber inne, als sie in die strahlenden blauen Augen eines süßen Jungen blickt. "Auch Deutsch?" fragt er immer noch belustigt. Doch die Frau hinter der Theke lässt lautstark und unverständlich zu verstehen geben, dass Nicole ihren Betrieb blockiert, also bezahlt diese schnell und verlässt, mit einem letzten Lächeln an den hübschen Deutschen, den Laden. Zuhause oder mit ihrer besten Freundin hätte sie auf den Jungen gewartet und vielleicht ein bisschen geflirtet. Ein hübscher Kerl, der Selbstbewusstsein ausstrahlt, ein tolles Lachen und etwa ihr Alter hat. Sie geht weiter, denn sie weiß, wie das ausgehen würde. Zum Einen würde Anna unglaublich nerven, wie sie es immer tut wenn Nicole etwas mit einem Jungen macht und zum anderen ist das der letzte Tag an diesem Hafen und sie möchte nicht jetzt neue Freunde finden. Der letzte Grund, den sie aber niemals offen zugeben würde, ist, dass wenn sie glücklich ist, ihre Eltern gewinnen und sie mit dem typischen haben-wir-doch-gleich-gesagt-Blick anschauen würden. Nicole würde die Demütigung nicht ertragen, auch wenn sie irgendwo spürt, dass ihr Benehmen ein bisschen kindisch ist.
Am Schiff angekommen, ist wenigstens der Tisch schon gedeckt und die Familie frühstückt gemeinsam. Die Sonne knallt auf sie herunter und Nicole sehnt sich nach einer Dusche, doch ihr Vater hat andere Pläne. "Auf geht's! Wir brauchen zu Fuß etwa 20 Minuten bis zum nächst-größeren Ort und da gibt es einen wunderschönen kleinen Markt." Nicole stöhnt laut auf. "Muss ich mit? Ich war joggen und will einfach nur ins Wasser, lesen und entspannen, nachdem ich heute so nett geweckt wurde." Sie bedenkt Anna mit einem bösen Blick, doch die streckt ihr nur frech die Zunge raus. Nicole verdreht die Augen? Wie alt ist sie bitte? Wer streckt denn mit 14 Jahren noch die Zunge raus? Glücklicher Weise hat ihre Mutter an diesem Tag nicht die Nerven für Stress und erwürgt den Streit im Keim. "Hört auf, Kinder. Wir hatten das doch schon gestern geplant, aber wenn du nicht mit willst, ist das deine Entscheidung. Auf so eine Stimmung hab ich eh keine Lust!" Nicole weiß, dass sie sich entschuldigen sollte, aber sie grummelt nur leise vor sich hin.
Zwanzig Minuten später ist ein Teil der Crew auf dem Weg in die Stadt und Nicole sucht ihren schlichten, schwarzen Badeanzug mit dem weiten Rückenausschnitt. Er ist nass und salzig. Wer hätte das erwartet? Irgendwann würde sie sich daran gewöhnen, aber jetzt zieht sie ihn nur mit Überwindung an. Buch und Sonnencreme in ihrer Tasche und Luftmatratze und Handtuch über dem Arm, sucht Nicole einen geeigneten Platz zum Baden. Ihre Stimmung sinkt immer weiter. Steinige, ungemütlich Strände, Seeigel überall im Wasser und niemand in ihrem Alter weit und breit. Na wenigstens hat sie so ihre Ruhe. Aufs Handtuch legen und lesen kommt gar nicht erst in Frage, wenn man sich nicht den Rücken zerstören will, also nimmt Nicole die Luftmatratze und geht vorsichtig ins Wasser. Natürlich verwandeln sich die Steine in rutschige, spitze Monster und unbeholfen schafft Nicole es schließlich sich hinzulegen. "Endlich!", denkt sie.
Nicole lässt sich den Vormittag noch einmal durch den Kopf gehen, was keine gute Idee ist. Sie ist heute wirklich schlecht drauf, da kann das angenehme Wasser und die warme Sonne auch nichts ändern. Plötzlich wird ihre Luftmatratze unter ihr weg gezogen und das letzte was sie hört, bevor sie ins Wasser fällt, ist lautes Lachen.

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