57 - Vor einem Abendessen

Start from the beginning
                                    

Natürlich nicht. Renée de Chirouelle-Avalinis, besser bekannt als Hekate, roch Geheimnisse zehn Kilometer gegen den Wind. Da Cress das wohl bestgehütetste Geheimnis im Kernbezirk war, sollte sie sich so weit wie möglich von Julians Verlobter fernhalten.
Sie runzelte die Stirn.
„Was meinst du?"
„Der ersten Teil der Laureline Oper wird aufgeführt. Zu Ehren des baldigen Ablebens der Hohen," Julians Stimme stürzte in Ironie ab, obwohl er sich augenscheinlich Mühe gab, das zu verhindern, „Mögen die Sterne ihre Seele leiten."

Das Buch glitt Cress aus den Händen und blieb aufgeschlagen auf dem Boden liegen, während sie kapierte, von was er da sprach. Laurelines Oper war der Grund, wieso Walsh im Kern gewesen war. Deswegen ging Federicy hier ein und aus, wie eine Adlige. Der Tänzer hatte sie nur kurz erwähnt und das hatte schon gereicht, um Cress in wildeste Tagträume und schmerzhafte Melancholie abdriften zu lassen.
„Der Fall des Sterns", flüsterte sie.

„Der erste Teil der Oper, ja. Die Arie ist erst im Zweiten, aber ..."

Seine Worte prallten an ihren Ohren ab, ohne dass sie diese verstand. Die Aufführung, von der er sprach, war nichts weniger als das fundamentalste Glaubensereignis und die größte Musikinszenierung der letzten Stadt.
Du wirst Teil davon sein.
Plötzlich saß sie wieder auf dem Schoß ihres Vaters, der in den Himmel deutete, um ihr begreiflich zu machen, welche Farbe die Tänzer getragen hatten. Er hatte ihr alles darüber erzählt, obwohl er die Oper selbst nie gesehen hatte. Geschichten, die zu schön waren, um wahr zu sein. Von Menschen, die flogen. Von ganzen Armeen, nicht gerüstet für die Schlacht, sondern für das Theater. Von Licht und Nebel, Spiegeln und Illusionen. Von zwei Welten, die von den Künstlern geschaffen wurden, nur für ein paar Stunden, und danach für immer vergangen waren.
Von dem größten Chor, den es je geben würde. Von Sängern, die selbst die freudlosesten zum Lachen und die frohsten Gemüter tieftraurig machen konnten.
Von Musik, die auch fünfzig Jahre nachdem sie verklungen war noch in der Seele nachhallte.

„Und deswegen wäre es wohl das Beste, wenn ich dich währenddessen bei den Dienstboten unterbringe. Falls dir das recht ist", beendete Julian seinen Vortrag.

Sie konnte es nicht fassen.

„Die Gelben halten immer ihre eigene kleine Feier ab, sehen sich das Spektakel auf der großen Leinwand an. Ich dachte, dass könnte dir gefallen."

Cress starrte ihn an, ohne ihn zu sehen. Immer noch kraulte Julian das Kätzchen. Eine Idee keimte in ihr hoch, so wild, dass sie wie Unkraut wucherte, bevor Cress sie mitsamt der Wurzel ausreißen konnte. Sie traf den Blick des Kronprinzen.
„Nein."

Verdutzt verstummte er, während sie sich sammelte und versuchte möglichst unbekümmert zu wirken. Sie wusste, dass ihre Bitte unverschämt war, doch das hielt sie nicht davon ab, zu fragen. Sie biss sich auf die Lippe. Er hatte längst bemerkt, dass sie etwas sagen wollte.

„Gibt es irgendeine Möglichkeit", sie brach ab und schüttelte den Kopf.
„Ja?", hakte der Kronprinz nach.
Cress hob den Blick. „Kann ich es sehen? Nicht auf einem Bildschirm, sondern in echt?"

Er hob die Augenbrauen, vergaß sogar einen Moment, seine Katze zu kraulen. Dann neigte er jedoch nicht geschockt, sondern nachdenklich den Kopf. Die Tatsache, dass das Gespräch anders als geplant verlaufen war, schien er interessant zu finden.
„Du warst gelb, nicht wahr?", fragte er sie dann. Ein Schauer rieselte Cress Rücken hinunter. Sie bereute es, ihn gefragt zu haben, senkte aber nicht den Blick, was wohl Antwort genug war.

„Das dürfte sich durchaus arrangieren lassen, Cress Cye."
Überrascht zwang sie sich, ihre Träumereien beiseite zu schieben. Der Kronprinz hatte den Kopf schief gelegt und die Arme vor der Brust verschränkt.
„Was hältst du davon, mich einfach zu begleiten?", schlug er dann vor, „Anstelle meiner andauernd in den Tratsch des Palasts verstrickten Ehefrau?"
Regungslos starrten sie sich an. Was er vorschlug, war so unverschämt, so illegal, dass sie einen Moment dachte, er würde scherzen. Doch das tat er nicht. Ein diabolisches Lächeln zupfte an den Lippen des Kronprinzen, während das Kätzchen von seinem Schoß sprang. Er hatte gerade ohne mit der Wimper zu zucken eine Farblose zum heiligsten Ereignis der letzten Stadt eingeladen.

„Irgendwie habe ich das Gefühl, dass du nicht wegen der Tatsache, dass ich dich in die Oper eingeladen habe, Schnappatmung bekommst. Und das macht mich traurig", er lehnte sich zurück, „Ist das ein ja?"
Ihre Mundwinkel zuckten nach oben, begleitet von einem ungläubigen Kopfschütteln. Skandalös war ein viel zu harmloses Wort, um diesen Plan zu beschreiben.
„Du hast gelächelt", stellte Julian siegessicher fest und stand auf.
„Das wüsste ich aber", ruderte sie zurück.
„Hm hm", machte der Kronprinz.
„Die Katze hat gegähnt. Da muss man lächeln."
„Aber natürlich, Cress Cye", er senkte verschwörerisch die Stimme, „Doch ich denke, ich werde Euch öfter in die Oper ausführen müssen, wenn Euch das zum Lächeln bringt."

Julian zupfte sein Hemd zurecht und band seine teuren Schuhe, bevor er sich zu ihr umdrehte. Cress dachte sehr scharf darüber nach, ob sie wirklich das Richtige getan hatte.
„In Anbetracht dessen, dass du der Grund bist, warum mir niemand helfen kann ... sehe ich wie ein junger, auf jeden Fall verantwortungsbewusster, immer pünktlicher, zuverlässiger und durch und durch guter Kerl aus, der auf keinen Fall vorsätzlich Blumenbeete verwüstet?"
„Wieso?"
„Ich habe eventuell den ein oder anderen Gärtner verärgert", stellte der Kronprinz zwanglos fest.
Cress schüttelte langsam den Kopf. „Kann es sein, dass Ihr ein bisschen zu viel Freizeit habt, Eure königliche Hoheit?"

Er schnaubte nur und wartete auf eine Antwort. Sie beugte sich vor.
„Du bist voller Katzenhaare."
„Wirklich?", ein teuflisches Lächeln huschte über seine Lippen. „Wunderbar."
Er goss sich einen Drink ein und kippte den Alkohol in einem Schluck die Kehle hinunter.
„Hu", der Kronprinz warf seinem Glas einen beeindruckten Blick zu, bevor er es abstellte und ihren Gesichtsausdruck bemerkte. „Dominique hat eine Katzenhaarallergie. Und ich muss ihr noch ihre neuste Gemeinheit heimzahlen."
Cress ließ ihre Aufmerksamkeit zu den vier kleinen, schwarzen Tieren wandern.
„Das erklärt so einiges."

Er schwebte mit fliegendem Jackett in Richtung Tür.
„Ich muss gehen, ich bin schon eine Stunde zu spät."
„Durch und durch pünktlich und zuverlässig", murmelte sie.
Julian drehte sich im Türrahmen noch einmal um.
„Nicht auf die Bücherregale klettern."

SkythiefWhere stories live. Discover now