Das Missgeburtenmuseum von Bordeaux

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Tagelang schon schneite es wild, und ich hatte das starke Gefühl, dass der Sturm wohl nie sein Ende finden würde. Jedes Mal, wenn ich aus dem Fenster dieser Wohnung im fünften Stock in der Rue Saint-Laurent starrte, sah ich, wie die passierenden Bürger der Stadt mit dicken Wolljacken, Mützen, Handschuhen und um den Mund gebundenen Schals versuchten, sich gegen die eisige Kälte, die in Bordeaux herrschte, zu schützen. Es war ein Januar, ein sehr kalter, denn soweit ich mich erinnern kann, habe ich irgendwann zu dieser Zeit in der lokalen Tageszeitung lesen können, dass es sich dabei um den kältesten und schneereichsten Winter seit Generationen gehandelt hat. Dennoch, auf wundersame Weise hatte die französische Stadt etwas Anziehendes zu bieten, vor allem in diesen düsteren Wintermonaten. Frankreich war immer eines meiner großen Ziele gewesen - ich las über Johanna von Orleans, beschäftigte mich mit der Revolution und Napoleon, hielt viel von deren Baukünsten, erlernte die Sprache mit großem Interesse und bewunderte die Kultur im Allgemeinen sehr.

Ich hatte im Oktober zuvor ein Studium der Sprachwissenschaften begonnen und wollte meine Französisch-Künste nochmal um ein Vielfaches verbessern, weswegen ich mich kurzerhand dazu entschied, bei einer Gastfamilie anzufragen. Als ich, Martin Herzing, noch in Brandenburg lebte, blätterte ich jeden Tag in diversen Zeitschriften, um mich per Anzeigen über dortige, temporäre Wohngelegenheiten zu informieren. Lyon war mir zu unsympathisch, in Paris war ich schon drei Mal gewesen, in Straßburg zwei Mal und Cannes war eher was für die Wohlhabenderen. In Bordeaux war ich noch nie zuvor, und ich hatte mich auch nicht damit beschäftigt. Also schien mir die Anzeige von Monsieur und Madame Bertrand passend. Der Preis war in Ordnung und sie boten ein einzelnes Zimmer inklusive Fernseher und bereitgestelltem Essen an. Ein nettes, älteres Ehepaar, muss ich sagen. Monsieur Bertrand war bereits fünfundsiebzig alt, hatte nur noch spärlich Haare am Kopf, einen markanten Schnauzer, war klein, trug eine dicke, altmodische Hornbrille und besaß dunkelbraune Augen. Seine Gattin, Madame Bertrand, einundsiebzig Jahre alt, hatte ihre weißen Haare stets zu einem Zopf gebunden, mochte lange, hellblaue Kleider, lackierte sich oft die Fingernägel rot und wirkte generell relativ elegant für eine ältere Dame. Ich muss zugeben, dass ich keinesfalls erwartet hatte, dass diese Gastfamilie je so sympathisch sein würde. Ihre Kinder waren längst erwachsen und berufstätig, deswegen vermieteten sie eben einen Teil ihrer mittelmäßig großen Stadtwohnung an ausländische Gäste und Studenten, wie mich.

Ich war bereits in anderen Ländern gewesen, wo es ungeheuer viele ungute, ausbeuterische, selbstverliebte, intrigante, gemeine oder boshafte Gastfamilien gab. Mit den Bertrands landete ich einen guten Coup. Wenn ich von der dortigen Universität nach Hause kam, speiste ich oftmals zusammen mit ihnen. Madame Bertrand war eine unheimlich exzellente Köchin. Und das in Frankreich, einem Land, das ohnehin für sein gutes Essen bekannt ist. Meine Heimat war dagegen eher trostlos und langweilig.

Das war mein fünfter Tag in dieser famosen Stadt. Hätte ich je geglaubt, dass er mir noch lange, wenn nicht für immer, im Gedächtnis bleiben würde? Dass mir diese Bilder nie aus dem Kopf gingen? Hätte ich geahnt, dass meine Augen etwas in der Form zu Gesicht bekommen würden? So viel Absurdes, Bizarres, Unglaubliches... Es ist ein großer Trugschluss zu glauben, man hätte als junger Erwachsener bereits alles im Leben gesehen. Ich verneine das mit felsenfester Überzeugung. Die Welt hält viel für einen bereit, wenn man zu den Unglücklichen dazugehört, die das Pech haben, dasselbe wie ich erblicken zu müssen.

Wie dem auch sei, ich kam damals erneut von der Universität nach Hause. Dieses Mal war es etwas später als üblich, es dürfte vermutlich zirka sieben Uhr am Abend gewesen sein.  Als ich die Universität über das große Haupttor verließ und mich auf der Straße wiederfand, bemerkte ich, dass der Schneefall heute etwas ruhiger als sonst war, wenngleich die Temperatur wohl eklatant niedriger gewesen ist. Natürlich flogen Flocken vom Himmel, doch waren diese schön anzusehen, vor allem in Kombination mit dieser früh einsetzenden, winterlichen Dunkelheit. Lang hatte ich es nicht bis zur Rue Saint-Laurent – ich konnte die Strecke jedes Mal locker zu Fuß bestreiten. Das tat ich auch. Der Bürgersteig war noch nicht gänzlich von der Schneemasse befreit worden und ich erzeugte mit jedem Schritt Fußstapfen, während ich meine beiden Hände der Kälte wegen in den Taschen meines langen Wintermantels gesteckt hatte. Viele Menschen spazierten an diesem Dienstag-Abend nicht mehr in der Stadt herum. Es war wahrscheinlich dieser starke Temperaturabfall, die Müdigkeit von der Arbeit oder sonst etwas, was sie dazu veranlasst hatte, ich wusste es jedenfalls nicht. Ich kam irgendwann bei den Bertrands in der Wohnung an, zog meine nassen Stiefel vor der Tür aus, öffnete diese dann, durchtrat sie, hängte meinen Mantel auf und ging dann geradewegs in die Küche, wo die Beiden bereits am Esstisch auf mich warteten. Sie tranken eine Suppe und ein fertiger Teller stand schon für mich da. Schimmel an den Wänden, kaputte Fließen... die Küche war definitiv zu renovieren, so viel stand fest, aber der Rest dieser Wohnung, der war in einem sehr guten Zustand. Edle Sofas, Tische aus dunklem Holz, noble Lampen, persische Muster-Teppiche, Bücherschränke, ein warmes, einladendes Licht, einige alte Heizkörper und eine teure Standuhr – die Bertrands legten viel Wert auf Ästhetik. Ich setzte mich auf meinen Stuhl am Esstisch.

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