Du sollst dich nicht wehren

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- Krankheit der Stunde: Skoliose ; Triggerwarnung: Mobbing, körperliche Gewalt -

Mittlerweile sind wir nicht nur in der Schule angelangt, sondern schon in der Orientierungsstufe. Für alle, die dem Fluch der späten Geburt unterliegen, oder schlicht aus Bundesländern stammen, die so etwas nie hatten:

Orientierungsstufe nannte man die 5./6. Klasse. Das war eine eigenständige Schulform nach der Grundschule, in der es vor allem das Ziel war, herauszufinden, welche Stärken und Schwächen der Schüler hatte, und wie sein Bildungsweg weitergehen sollte. In der 5. Klasse hatten noch alle gemeinsam unterricht. In der 6. wurden dann Kurse für die gebildet, die in einem Fach talentierter waren, und natürlich Parallelkurse für die, deren Stärken anderweitig lagen. Allerdings gab es diese kleinen Leistungskurse nur in Mathe und Englisch, und noch nicht zu stark auszusieben und auch den noch schwächeren Schülern eine Chance zu geben, eine Gymnasialempfehlung zu erarbeiten.

Orientierungsstufe hieß für uns Schüler aber vor allem, dass alte Freundschaften aufgebrochen wurden, weil man in verschiedene Klassen verteilt wurde. Denn plötzlich waren es nicht nur Kinder aus dem selben Dorf, sondern gleich aus der ganzen Gemeinde, aus vier oder fünf Grundschulen. Und die sollten gleichmäßig verteilt werden, damit man keine Subkulturen bildet, sozusagen.

Nun sitze ich da. Ich hatte vorher schon keine wirklichen Freunde in meiner Klasse, weil ich anders war. Die Streberin. Denn ich bin in der ersten Klasse vorgesetzt worden. Nicht, weil ich besonders intelligent war, sondern, weil ich ältere Schwestern hatte, die mir alles beibrachten, was sie lernten.

Doch damit wurde ich zum Außenseiter. Ich hatte Leute, die es ausnutzten, dass ich hilfsbereit war. Und, die mir bei Langeweile sogar kleine Momente freundlichen Miteinanders gewährten. Aber wenn wieder über mich hergezogen wurde, wenn ich der Mittelpunkt der Witze war, verteidigten sie mich nicht. Sie lachten mit.

Und nun finde ich mich in einer völlig neuen Gruppe wieder. Bei der Einschulung in die Orientierungsstufe darf ich zwar angeben, von welchen zwei besten Freunden ich auf keinen Fall getrennt werden will, bei der Klassenzuteilung, aber ich habe keine Freunde, die ich angeben könnte. Meine einzigen zwei oder drei wirklichen Freundinnen sind im Jahr unter mir, in meiner alten Klasse. Die, mit denen ich zusammen eingeschult worden war und von denen ich fortgerissen wurde. Jetzt sind sie hinter einem Zaun verschwunden. Noch in der Grundschule.

Jetzt wird alles schlimmer. Wer kein Rudel hat, zu dem er gehört, ist nun einmal das schwächste Klassenmitglied. Also hacken alle auf mir rum, denn dafür muss man sich ja mit niemandem anlegen. Aber das bin ich ja schon aus der Grundschule gewöhnt, also trifft mich das nicht so hart. Was mich aber doch trifft, sind die Schläge. Ich bin ein Mädchen, also verprügelt man mich zumindest nicht richtig. Aber ein Schlag hier oder da? Kann ja nicht schaden, denken sich die Jungs. Bald haben sie das Talent, genau auf meinen Fehlbildungswirbel in der Wirbelsäule zu hauen. Eine gezielte Faust, mit nicht mal allzu viel Kraftaufwand. Es ist offenbar lustig, dass sie damit wohl einen Nerv treffen. Dass ich damit für ein paar Sekunden gelähmt bin, nicht einmal atmen kann. Nicht vor Schmerz. Der körperliche Schmerz ist zwar auch nicht gering, aber gar nicht so schlimm. Ich kann es schlicht nicht. Mein Körper reagiert nicht, egal, wie verzweifelt ich versuche. Wie sehr ich meinen Willen anstrenge, um diese Blockade zu überwinden.

Nach ein paar Sekunden ist es vorbei. Und niemand hat es gesehen, außer den Tätern selbst. Also ist es gleich wieder vergessen. Bis auf die psychischen Narben.

  Und ein wenig bin ich selbst Schuld. Sie lieben es, mich zu ärgern, weil ich mich so schön dabei aufrege. Ich bin kein stilles Mäuschen, sondern eine Kämpferin. Ich versuche, mit ihnen zu diskutieren, warum man das nicht macht. Und dann werde ich sauer. Ich bin wie das HB-Männchen. Für die Älteren. Die Jüngeren dürfen hier gern an Gernot Hassknecht denken. Und das bereitet meinen Mitschülern Freude. Darauf arbeiten sie hin. Würde ich sie ignorieren, würden sie angeblich aufhören, sagt man mir.

Auch das versuche ich. Aber es funktioniert nicht. Oder halte ich es nicht lange genug durch? Denn ignorieren fühlt sich viel schlimmer an. Dadurch werde ich noch mehr zum Opfer. Weil ich mich nicht mehr wehre, alles kraftlos hinnehme. Nein, das kann ich nicht. Und eine Weile pendelt es sich ein. Sie lästern, spotten, schlagen, ich rege mich auf. Fast ein Gleichgewicht der Kräfte. Gewöhnung.  

Dramatisch wird es, als sie auf einmal wieder und wieder versuchen, mich die Treppe runterzuschubsen.

Mein Klassenraum liegt im ersten Stock. Damit sind es nur knapp drei Meter, die die Treppe hoch ist, und es gibt einen Absatz in der Mitte. Dennoch packt mich wieder und wieder die Angst. Auch vor Treppen habe ich von klein auf schon etwas Angst, aber jetzt wird es schlimmer. Jetzt versuchen meine Klassenkameraden, mich im schlimmsten Fall sogar zu töten, wenn ich dumm falle. Das begreifen sie nicht, das ist mir klar. Oder zumindest hoffe ich das für sie, mich und unsere Gesellschaft sehr. Nur macht das die Lage für mich nicht besser.

Auch hier versuche ich, mich zu wehren. Eher auf eine passive Art. Ich gehe die Treppen hoch und runter, wenn gerade keiner von ihnen da ist, und halte mich ansonsten von Abgründen fern. Ich gehe einfach zur Seite, wenn ich sie kommen sehe. Ich passe mich an, um dem Schlimmsten zu entgehen.

Doch dann passiert es. Eines Tages mache ich wieder einfach nur einen Schritt zur Seite, als ein Junge mich gerade schubsen will. Damit hat er nicht gerechnet, weil er sich ein gutes Stück an mich hatte anschleichen können. Er verliert das Gleichgewicht und fällt.

Ich erinnere mich an mein Auge. Aber das hier ist ein Mensch, so viel weicher. Er zerbricht nicht nur einfach, wenn etwas passiert. Er kann sich viele verschiedene Verletzungen zuziehen. Mir gerinnt das Blut in den Adern, als ich ihn fallen sehe. Nur bis zum Treppenabsatz, aber dennoch. Das da wollte er gerade mir antun.

Ich werde von meiner Klassenlehrerin weggezogen, bevor ich etwas tun kann. Ich will ihm helfen! Ich will mich vergewissern, dass er lebt, dass es ihm gut geht. Nicht nur, weil ich über ihnen stehen, die Moralischere sein will. Auch, weil es mir leid tut, irgendwie. Er sollte doch nicht fallen, das habe ich nie gewollt.

Ich werde ins Klassenzimmer gezogen und bekomme eine Strafpredigt, weil ich den Jungen angeblich geschubst hätte.

Ich mag meine Klassenlehrerin eigentlich sehr gerne, und sie weiß, wie sehr mich die anderen schikanieren. Aber jetzt hasse ich sie. Ich werde dafür bestraft, dass ich mir nicht wehtun lasse? Dass ich einen einzigen Schritt zur Seite gehe, wenn andere mich schubsen wollen? Ein weiteres Mal ist meine Seele daran zerbrochen, wie Menschen mit mir umgehen. Dass nicht einmal die Klassenlehrerin, die ich so sehr schätze und verehre, auf meiner Seite ist, wenn ich doch schon sonst niemanden habe.

Ich komme mit einem Eintrag ins Klassenbuch davon und einer Art Nachsitzen. Ein langes Gespräch mit der Lehrerin nach dem Unterricht. Dabei hat der Junge sich außer ein paar blauen Flecken nichts getan. 

Immerhin lässt er mich jetzt körperlich in Ruhe, attackiert mich nur noch verbal. Und selbst das weniger. In manchen Momenten ist er sogar nett. Selbst die anderen versuchen nicht mehr ganz so oft, mich die Treppe runter zu schubsen. Sind dabei vorsichtiger. Weshalb keiner von uns mehr fällt.

Aber den Schaden, den dieser Tag hinterlassen hat, trage ich fast 20 Jahre später noch mit mir. Das Wissen, dass im Zweifelsfall ich bestraft werde, wenn ich nur versuche, dem Schmerz zu entgehen.

Unter drei AugenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt