Wie kann man sie noch hässlicher machen?

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- Krankheit der Stunde: Nur ein Schneidezahn oben -

Doch auch neben der Schule läuft es nicht einwandfrei. Ich sitze beim Kieferorthopäden. Eine recht rabiate Frau, die aber bei all ihrer körperlichen Ruppigkeit doch nicht unfreundlich wirkt. Ich mag sie dennoch nicht wirklich. Sie hat mir in meinem Leben zu viel angetan. Ich hab so ziemlich alles durch, was es auf dem Markt gibt. Herausnehmbare Zahnspangen, feste Zahnspangen, und sogar die mit diesen herrlichen Metallgerüsten um den Kopf herum, mit denen man noch weniger Schlaf kriegt, als eh schon, weil sie ja immer im Weg sind, wenn man sich im Bett umdrehen will. Nein,

Nicht die ganz Schlimme, die es sicher nur in Hollywoodfilmen gibt. Aber zwei Metallbögen aus meinem Mund hin zu einem Geschirr um meinen Kopf herum schon. Ich glaube sogar, damit einmal Radiowellen empfangen zu haben, aber vielleicht ist das Unsinn. Vielleicht bilde ich mir das nur ein. Vielleicht verwechsel ich das nur mit der Zeit, als wir auf dem Dachboden mit dem Telefon tatsächlich Radio mithören konnten, solange keiner auf der anderen Seite abnahm. Nichtsdestotrotz war es genug, um dieser Frau von Grund auf zu misstrauen.

Nun schaut sie sich lange meine Zähne an, die Jahre der Qualen hinter sich haben, deren Kiefer sich seit der ersten Zahnspange regelmäßig ausrenkt, und die nach all dem Leid immer noch genauso furchtbar aussehen wie früher. Aus ihrer Sicht. Die Zähne waren von Anfang an einer der wenigen Körperteile mit denen ich halbwegs leben konnte.

"So. Zum Abschluss müssen wir noch was mit dem Schneidezahn dort machen. Das sieht doch nicht gut aus", bestimmt sie.

Tatsächlich ist der das einzige Problem, das ich bei den Zähnen je gesehen habe. Das Einzige, was vor Beginn der Behandlung nicht ganz normal war, aus meiner Sicht. Und dennoch für mich nicht störend.

Ich habe im Oberkiefer nur einen Schneidezahn. Das war schon immer so und es hat mich nie behindert oder sonstwie gestört. Es hat auch nie jemand bemerkt, denn da sitzen die Zähne so eng und gerade, dass es auf dem ersten Blick sogar gut aussieht. Nur, wenn ich darauf hinweise, schaut mein Gegenüber genauer hin. Es ist also wirklich kein Problem. Nicht normal, aber auch kein Weltuntergang. Außer für meine Kieferorthopädin.

Zuhause erklärt mir meine Mutter noch einmal, was diese Frau mit mir vor hat. Ich soll zu einem Spezialisten. Der soll den Zahn neben dem Schneidezahn etwas abschleifen, damit überhaupt Platz ist, und dann mit Modelliermasse daraus einen zweiten Schneidezahn gestalten.

Ich breche in Tränen aus. Ich hasse Zahnärzte ohnehin schon, nachdem mir zu Beginn der Spangenbehandlung sieben Milchzähne, die noch fest saßen, an einem Tag gezogen wurden. Auch, um Platz zu machen. Für die Spange. Verstehe ich bis heute nicht und ist der Grund, warum ich seit bestimmt zehn Jahren nicht mehr beim Zahnarzt war, trotz gelegentlicher Schmerzen.

Aber wichtiger noch: Ich mag die Zähne da oben so, wie sie sind. Ich will da nichts ändern.

Meine Mutter stimmt mir eigentlich zu. Erklärt mir aber, dass wir viel Geld in meine Zähne gesteckt haben, und einen Teil davon von der Krankenkasse zurückbekommen können. Aber nur, wenn ich die Behandlung zu Ende führe. Also, wenn ich meinen Zahn abschleifen und dann wieder neu aufbauen lasse.

Ich bin in dem Glauben aufgewachsen, dass wir kaum Geld haben. Mein Vater hat an allen Ecken und Enden gespart. Nicht so manisch, wie manch einer im schlechten RTL-Nachmittagsprogramm, aber doch so, dass er uns beigebracht hat, kein Geld zu verschwenden. Bei mir hat das die Angst ausgelöst, eines Tages auf der Straße zu landen, obwohl wir ein eigenes Haus haben. Ich stimme also schweren Herzens zu und wir machen einen Termin aus.

Der Arzt schaut lange in meinen Mund und nickt dann. Er beginnt, den Zahn abzuschleifen. Das brummend-schabende Geräusch und die Vibrationen, die sich von Zahn aus durch meinen ganzen Körper fressen, machen mir Kopfschmerzen und ich spüre richtig, wie sich die Härchen überall auf meiner Haut aufstellen. Wer Fingernägel an der Tafel kennt, möge sich das Geräusch jetzt bitte im eigenen Mundraum vorstellen. Mit dem Gefühl dazu, das die Tafel in den Moment erleiden muss.

Es dauert ein paar Minuten, dann ist es vorbei und ich habe für einen Moment weniger Zahn. Doch man gibt mir gar nicht die Gelegenheit, das Gefühl in meinem Mund zu erkunden. Ein Zahn mit abgetragenem Schmelz ist immerhin verwundbarer als normal.

Der Arzt kramt in seinen Sachen herum. „Du hast ziemlich helle Zähne", stellt er fest. Für den ersten Moment ein schönes Kompliment, doch dann sagt er: „Die Farbe haben wir gar nicht da. Aber ich kann deinen Zahn auch nicht so lassen, also kriegst du jetzt halt ein paar Nuancen dunkler." Dann spachtelt er los.

Als ich das Ergebnis sehe, breche ich wieder in Tränen aus. Mein Oberkiefer, der vorher noch auf den ersten Blick normal, sogar gut aussah, ist jetzt verunstaltet. Ein zweiter Schneidezahn, gelblich und krank aussehend, steht nun zur Seite ab. Schief. Doch nicht nur das. Zwischen dem alten Zahn und dem Aufsatz ist ein kleiner Rand, so scharfkantig, dass ich mir daran ein paar Tage lang immer und immer wieder die Zunge aufschneide, bis ich mich daran gewöhnt habe.

Nun werde ich auf meinen Mund angesprochen. Werde gefragt, warum der eine Zahn denn ganz anders aussieht. Es ist mir peinlich. Ich möchte nicht mehr lächeln. Habe ich mich vorher schon nicht hübsch gefühlt, so bin ich jetzt endgültig ein Monster geworden.

Dieses Gefühl geht nicht weg. Über zehn Jahre später kann ich mein Lächeln immer noch nicht ertragen. Ich will mich nicht fotografieren lassen, gut, noch weniger als vorher. Ich mag meinen Mund nicht.

Durch Tee und Kaffee habe ich versucht, die restlichen Zähne dem Neuen anzupassen und das ist mir einigermaßen gelungen. Hell sind meine Zähne jetzt jedenfalls nicht mehr. Doch noch immer steht der eine Zahn schief und deformiert aus meinem Gebiss heraus und erinnert mich daran, dass ich Ärzten nicht trauen kann. Dass bei der Wahl zwischen einer Kinderpsyche und Geld Geld in unserer Gesellschaft den Vorrang hat.

Vielleicht hätte ich den Arzt dafür verklagen können. Die falsche Farbe zu nehmen, ist mit Sicherheit etwas, wofür man zumindest einen Preisnachlass erstreiten könnte. Aber ich war noch ein Kind. Außerdem bringt mir Geld die Zähne, mit denen ich mich wohlfühlte, auch nicht wieder zurück. Und die Zähne waren ja eh nur die Spitze des Eisbergs. Noch eine Körperstelle weniger, wegen der ich nicht gehänselt werde, die nicht mein Selbstvertrauen noch mehr zerstört. Was macht die eine Stelle schon noch aus?

Unter drei AugenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt