Knorpelknie

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„Der Knorpel braucht Druck", röhrte Irmgard Gwizek vom Podium hinunter ins Publikum. Ihre durchdringende Reibeisenstimme verlieh dem soeben Gesagten den nötigen Nachdruck, so dass niemand daran zu zweifeln wagte. Die gut 30 anwesenden Senioren duckten sich in die Stuhlreihen. Das hätte Irmgard als Beweis genügen können, dass ihre Worte angekommen waren. Dennoch wiederholte sie lauter als zuvor: „Der Knorpel braucht Druck, sonst macht der, was er will!" Das war das fulminante Ende ihrer 20-minütigen Vortrags über den richtigen Umgang mit Gelenken. Sie schnappte sich ihren orthopädischen Gehstock und stieg von der Bühne.

„Dankeschön, Irmgard!", rief ein herbeigeeilter Moderator. „Wer ist der Nächste? Ach, hier hab ich ihn. Horst, komm bitte zu mir. Einen kräftigen Applaus für unseren Horst, er wird euch erklären, warum Melkfett besser ist als Vaseline."

Irmgard schlurfte derweil durch die Reihen bis an Ende des Saals – dort lag die Bar des Seniorenzentrums, welches sie seit zwölf Jahren bewohnte.

„Doppelten Korn", rief sie Otto zu, der heute an der Theke Schicht hatte. „Weißt du, manchmal glaube ich, die Leute verstehen die einfachsten Dinge nicht."

„Was meinst du, mein Täubchen?", flötete Otto und stellte den Schnaps auf die Theke.

„Na, zum Beispiel Pekinesen!", sagte Irmgard energischer, als es nötig gewesen wäre.

„Stimmt", gab Otto zu, „die verstehe ich auch nicht."

„Papperlapapp, stell dich nicht dümmer als du bist. Der Pekinese ist recht simpel gestrickt. Nehmen wir die Ernährung: Pekinesen lieben Leberwurst. Aber sie hassen Knoblauch", erklärte Irmgard immer noch überaus lautstark.

„Jetzt, wo du's sagst, da könnte etwas dran sein."

Just in diesem Moment schallten empörte Rufe zu ihnen nach hinten: „Könnt ihr bitte mal die Klappe halten?! Ich versuche, hier einen Vortrag zu halten!" Es war Horst, dem die Pekinesen-Nummer ganz schön auf den Zeiger ging.

„Friss Melkfett!", schrie Irmgard zurück und warf ihren Gehstock in Richtung Bühne. Horst ging ihr seit Ewigkeiten auf die Nerven. Wie fast alles in diesem Irrenhaus voller langweiliger Alter. Hier konnte man nicht mal in Ruhe seinen Schnaps trinken und mit dem Barkeeper flirten.

Währenddessen steckte Harald Kiesewetter im dichten Berufsverkehr fest. Er hatte andere Probleme. Wie vielen Rheumatikern und Osteoporose-Patienten ging ihm die Hitze der vergangenen Tage an die Nieren – oder besser gesagt an die Knie – Haralds größtem Leiden. Er schätzte er die Kälte. Sie erlöste ihn jedes Mal von dem elenden Zucken, das ihn seit Jahren plagte, und brachte ihm Frieden. Und so wünschte er sich sehnlichst den Winter herbei, als er in seinem 96er Fiat Panda durch die brütend heiße Innenstadt kroch. Und da zuckte es wieder, das rechte Knie.

„Verdammt!", fluchte Harald.

Er würde sich schleunigst einen Wagen mit Automatik kaufen müssen. Dieses Zucken war die Hölle! Es hatte seine Karriere als Sanitär- und Heizungsinstallateur viel zu früh beendet. Obendrein gingen acht Auffahrunfälle auf das Konto des Knies. Einmal war er mit Vollgas in einen Mülllaster gefahren, weil sich sein Bein ruckartig versteifte. Er hatte mehrere riesige Müllkübel einfach weg gerammt und den Inhalt großflächig über drei Fahrspuren verteilt. Es war eine Sauerei gewesen. Beschimpft hatte man ihn, gegen sein Auto getreten. Man hätte ihm, wenn er nicht mit Karacho davon gerast wäre, sicher noch Schlimmeres angetan. Ungern dachte er an den Vorfall zurück. Zu Hause hatte er seinen Wagen mit Sprühdosen aus dem Baumarkt umlackiert, vorne türkis, hinten orange. Diese Farben waren im Angebot gewesen, und da man für ein ganzes Auto ziemlich viele Dosen brauchte, ging es nicht anders. Harald war Frührentner.

„Ach, hätte ich doch was Vernünftiges gelernt!", seufzte er und fuhr auf den Parkplatz des Seniorenzentrums. Er war genau in der richtigen Stimmung für seinen Vortrag: Über Gott und die Welt.

Drinnen kippte Irmgard ihren sechsten Korn hinunter und funkelte Horst immer noch böse an. Dieser veranschaulichte die Unterschiede von Melkfett und Vaseline anhand einer Langzeitstudie, die er an seinen beiden Pobacken durchführte.

„Ich brauche ein paar Freiwillige", rief er ins Publikum. Ohne zu zögern, schleppten sich Gerlinde und Hildegard zu ihm nach oben.

„Nutten!", schrie Irmgard. Doch das Treiben auf der Bühne ging ungehindert weiter.

„Ihr müsst fühlen, wie das wirkt!", forderte Horst die beiden Damen auf. „Packt ruhig richtig an", stöhnte er.

„Ekelhaft", sagte Irmgard knapp und drehte sich wieder dem Barkeeper zu, der den nächsten Schnaps einschenkte. „Guter Junge", lobte sie Otto. „Magst du nachher auf mein Zimmer kommen?"

Schlagartig verstummte der Saal. Harald Kiesewetter war eingetreten und steuerte zielsicher auf das Podium zu. Alle Blicke folgten ihm. Lediglich die auf der Bühne heftig im Vaselinerausch vor sich hin rubbelnden Horst, Hildegard und Gerlinde bekamen nichts mit – bis Harald direkt hinter ihnen stand. Sein im gleißenden Scheinwerferlicht bedrohlich zuckendes Knie holte aus und trat rücksichtslos um sich.

„Spürt das Knie Gottes!", brüllte Harald, offenbar wie im Wahn.

Ein Raunen ging durchs Publikum und auch Irmgard wandte sich wieder um. Das war ein Kerl, ein echter Mann. Und schön war er, trotz seiner Halbglatze und des deutlichen Bauchansatzes. Und wie er mutig mit dem unsittlichen Gesindel abrechnete. Irmgard war verliebt.

„Otto, ich muss gehen, wir machen ein andermal rum", sagte sie geistesabwesend und trabte zur Bühne.

Harald kam kurze Zeit später auf dem Beifahrersitz seines Autos wieder zu sich. Er rieb sich die Augen, sie brannten fürchterlich. Unsicher sah er aus dem Fenster. Sie fuhren auf der Autobahn. Als er sich nach links drehte, sah er eine fremde Frau am Steuer, die mit Vollgas über die Straße jagte. Sie sah aus wie eine menschgewordene Bergziege, die stramm auf die 80 zuging. Eine wahrlich hässliche alte Schachtel.

„Wie zum Geier bin ich hierhergekommen? Ich kann mich an nichts erinnern!", fragte Harald.

„Chloroform!", entgegnete Irmgard knapp. „Ich hab immer ein Fläschchen in der Handtasche, für spontane Einfälle."

„Ja, wie... was haben Sie?!", stammelte er.

„Nur mit der Ruhe, es ist nichts passiert. Ich habe Sie da rausgeholt, bevor die Bullen angerückt sind. Sie haben den Schweinepriestern ganz schön in den Arsch getreten."

In Haralds Hirn wehten schwarze Nebelfetzen umher und gaben sporadisch den Blick frei auf eine Bühne. Er sah sich selbst direkt von oben, wie er wild zuckte. „Oh, ich verstehe. Es ist wieder passiert", murmelte er in sich hinein.

„Schon gut, Harald, ich darf Sie doch Harald nennen, kein Stress! Wir sind auf dem Weg an einen sicheren Ort." Er mochte das zwar gern glauben, doch beschlich ihn das Gefühl, dass hier etwas grundsätzlich schief lief.

Die Weltengang-MaschineWhere stories live. Discover now