Die Ausreise

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Er wuchs in der Ukraine auf. Dort hat er studiert. Gleich nach dem Studium brach er nach Deutschland auf. Und das ist die Geschichte seiner ersten Reise nach Deutschland.

Es war im Jahre 1999. Ein paar Tage nach den Staatsexsamen feierte er das Ende des Studiums mit seinen Kommilitonen. Am nächsten Tag fuhr er mit neun weiteren Passagieren und einem Fahrer in einem kleinen Bus in Richtung Deutschland. Er hatte zwei große Taschen dabei. Das war alles, was er mit seinen 23 Jahren ins neue Leben mitnahm.

Die Menschen im Bus gehörten unterschiedlichen Altersgruppen an. Trotzdem kamen sie sehr schnell in Kontakt. Der Platzmangel leistete dazu einen großen Beitrag. Nach ein paar Stunden Fahrt waren sie wie eine große Familie, die es sich als Ziel gesetzt hatte, Deutschland zu erreichen.

Am Abend kamen sie bereits an der ukrainisch-polnischen Grenze an. Zuerst mussten sie durch die Pass- und Zollkontrollen auf der ukrainischen Seite. Nun, waren damals ukrainische Zollbeamten ziemlich scharf darauf, die Menschen auszunehmen, die sich entschlossen hatten, nach Westen auszuwandern. Schließlich zahlten sie, Zöllner, eine Menge an Schmiergeld, um eine Stelle beim Zollamt zu bekommen – andere auszubeuten ist doch immer ein gutes Geschäft!

Endlich kam ein Mitarbeiter des Zolls in den Bus. Er fragte, ob irgendjemand nach Deutschland auswandere. Er hob die Hand. Das war die einzige gehobene Hand.

Ab diesem Zeitpunkt war er im Fokus der Beamten. Sie luden ihn freundlich ins Zollgebäude ein und natürlich sollte er seine Taschen mitnehmen. Sie befragten ihn, ob er irgendwas Verbotenes für die Ausreise aus der Ukraine bei sich hatte: „Na, vielleicht irgendwelche Schätze der Ukraine?" Klar hatte jeder welche dabei, der sein Studium kurz davor abgeschlossen hatte! Sie wollten sehen, was er in seinen Hosentaschen hatte. Der Geldbetrag von 200 Dollars, die er als Startkapital für das neue Leben hatte, schien ihnen sehr verdächtig. Sie wollten wissen, ob er weiteres Geld oder Schmuckstücke zum Bespiel in seinen Schuhen hatte. Das einzige, was sie dort allerdings fanden, war der schöne Schweißduft seiner Füße. Draußen wütete der Winter und die Heizung im Bus lief die ganze Zeit auf Hochtouren. Endlich waren sie mit den Sachen fertig, die er am Köper trug.

Da sie mit den Durchsuchungsergebnissen unzufrieden blieben, gingen sie an seine großen Taschen heran. Es fand sich eine Menge an Sachen darin: Klamotten, Schuhe, Hygieneartikel, aber auch einige Küchenutensilien, Nadel, Werkzeuge (wer weiß, was in der ungewissen Zukunft in einem fremden Land aus der Patsche helfen kann) und das Wichtigste, seine Bücher. Die Zöllner versuchten immer wieder, seine Sachen für die Staatsjuwelen zu erklären. Beispielsweise sollten die schön bemalten Küchenbretter aus Holz im nominalen Wert von fünf DM Antiquitäten sein. Es gelang ihm, die Attacken abzuwehren.

Plötzlich zog einer der beiden mutigen Mitarbeiter des ukrainischen Zolls ein Buch über die Theorie der Datenbanken aus einer der Taschen heraus. Es war ein taktischer Fehler, den er ausnutzen wollte. Die braven Staatsdiener fragten, was es mit dem Buch auf sich hatte. Daraufhin fing er an, die Datenbanken Theorie vor dem Publikum aus zwei Zollbeamten zu referieren. Sie fielen fast vom Hocker. Sie wussten nicht, wie es dazu kam, dass sie in einer Informatikvorlesung gelandet waren. Alles, was einer der beiden aus sich herauspressen konnte, war ein sarkastischer Satz: „Siehst du, welch kluge Menschen die Ukraine verlassen?" Den Satz ignorierte er natürlich. Sein Ziel war erreicht. Sie hatten keine Lust mehr, ihre wertvolle Zeit mit ihm zu vergeuden. Letztlich kostete ihre Zeit Geld im wahrsten Sinne des Wortes. Enttäuscht ließen sie ihn zu seinem Bus zurückkehren, der ihn zu der nächsten Station der Entdeckungsreise mitnahm. Diese war der polnische Zoll, der kleinere Ansprüche an die Reisenden stellte...

Die Ausreise und die ersten EindrückeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt