Es geht nicht weiter

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»Tiere haben Gefühle – aber dafür hast du wohl kein Gefühl«, murmelte die alte Dame und beobachtete den Jungen auf der Bank.

Kenny Feldmann riss ein weiteres Stück Papier aus dem Buch ›Biologie 7. Klasse‹ und formte in seinem Mund ein nasses Kügelchen daraus. Dann setzte er den Kugelschreiber, aus dem er die Mine entfernt hatte, wieder an seine Lippen. Er holte tief Luft und schoss das Papierkügelchen auf eine der Tauben, die sich am Bahnsteig tummelten. Das Tier flatterte erschreckt hoch und verlor eine Feder. Volltreffer!, dachte Kenny und grinste in sich hinein.

Die Dame schüttelte den Kopf. Sie setzte sich neben Kenny. Dann griff sie in eine Papiertüte und machte ein paar Körner von einem Brötchen ab, die sie auf den Bahnsteig warf.

»Sind dir die Tiere gleichgültig?«, fragte die Frau.

Kenny versteckte hastig sein Blasrohr und schaute auf den Boden. Vielleicht nimmt sie es mir weg, dachte er. Die Vögel stürzten sich auf die Körner.

»Weißt du nicht, dass es der Taube weh tat, als du auf sie geschossen hast? Auch wenn sie dir das nicht sagen kann.«

Kenny erwiderte den Blick der Dame. Dann berührte er kurz mit den Fingern seine Lippen und drehte seine Handflächen nach oben.

»Du kannst nicht sprechen?«, fragte die Dame erstaunt.

Kenny nickte. Er machte mit seinen Händen Bewegungen, die »Ich bin stumm« bedeuteten. Ohne Worte sagen zu können, war Kenny auf die Welt gekommen. Deshalb hatte er von Anfang an eine Sprache gelernt, mit der sich Menschen durch ihre Hände und ihre Mimik ausdrücken können.

»Du beherrschst die Gebärdensprache ...«, sagte die Frau. »Ich nehme an, so sprichst du ... entschuldige bitte, so gebärdest du mit deiner Familie. Aber ich verstehe das leider nicht.«

In diesem Moment ertönte ein Knacksen über den Bahnhofslautsprecher. Kenny hörte genau hin. Eine Durchsage erschallte: »Wegen eines Unfalls in der Steinburger Vorstadt fällt die Linie 10 bis auf Weiteres aus.«

Kenny ließ die Schultern fallen und nahm seinen Schulranzen auf den Rücken. Notgedrungen beschloss er, den letzten Rest zu Fuß nach Hause zu gehen.

Am Ende des Bahnsteiges bauten sich etwa gleichaltrige Typen plötzlich bedrohlich vor ihm auf. Kenny war zwar bereits dreizehn Jahre alt, aber schon immer kleiner und schwächer als die anderen Jungs in seinem Alter gewesen. Die Jungen umzingelten ihn.

»Bist du bereit für deine tägliche Abreibung, Feldmann?«, fragte der Anführer.

Die Kerle schubsten ihn und machten sich über ihn lustig.

»Wieso sagst du denn nichts, Fischmann?«, verhöhnte ihn der Wortführer. »Ruf doch um Hilfe!«

Kenny verfluchte seine Stummheit. Einer schlug ihm in den Bauch und er ging zu Boden. Trotz der Schmerzen arbeitete sein Kopf unter Hochdruck, um einen Ausweg zu finden. Irgendetwas muss mir einfallen!  Da entdeckte er in einiger Entfernung eine Notrufsäule. Mit letzter Kraft befreite er sich. So schnell ihn seine Beine trugen, rannte er auf die Notrufsäule zu. Die Jungen verfolgten ihn. An der Sprechanlage drückte er den Alarmknopf. Die Jungen hielten inne.

»Polizei Steinburg, was ist passiert?«, fragte eine Stimme aus der Notrufsäule.

»Weg hier, die Streife kommt«, riefen seine Verfolger und ergriffen die Flucht.

»Hallo? Wer ist denn da?«, wollte die Stimme wissen. »Hallo? Hallo?«

Kenny setzte seinen Heimweg mit hängendem Kopf fort. Wütend kickte er eine Taube in die Bahngleise.

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⏰ Last updated: Mar 21, 2018 ⏰

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Adam der AffeWhere stories live. Discover now