EPISODE 1

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Jack

Als ich wieder zu Bewusstsein kam, war das erste was ich fühlte ein erdrückender Schmerz an meinem Hinterkopf. Ich hielt die Augen geschlossen und atmete schnell und flach. In meinen Ohren dröhnte es und alle Geräusche um mich herum schienen zu einem einzigen, undeffinierbaren Rauschen zu verschmelzen. Meine Schläfen pochten. Aus irgendeinem Grund fühlte ich mich zu schwach, um meine Augen zu öffnen, doch die Innenseite ihrer Lider schien förmlich zu brennen. Ich kniff sie nochmals fest zusammen, bevor ich genug Kraft aufwenden konnte, sie aufzuschlagen.
Dunkelheit.
Ein gigantisches schwarzes Nichts hüllte mich ein und verbot mir weiterhin jede Sicht. Das Blut schoss mir durch den Kopf und mir wurde übel. Ich hatte Angst. Dieses erdrückende Gefühl kroch nagend und quälend langsam in mir hoch. Mein Atem wurde hektischer. Plötzlich zuckte ein schwacher Lichtstrahl, dann noch einer. Ich blickte mich um, doch noch immer konnte ich nichts erkennen. Doch trotz des mich verschlingenden schwarzen Meeres um mich herum spürte ich die Anwesenheit anderer Menschen. Ein blendendes Licht schien mir plötzlich ins Gesicht und ich konnte spüren, wie meine Pupillen, die gerade angefangen hatten, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, zu kleinen Punkten zusammenschrumpften. Nach einer Weile konnte ich erkennen, woher das Licht kam. Verschwommen sah ich einen Mann vor mir. Ich konnte sein Gesicht nicht genau erkennen, obwohl er kaum zwei Meter von mir entfernt zu sein schien. Jetzt kam er auf mich zugerannt.
"... dir gut?", hörte ich seine dumpfe Stimme, die sich langsam aus dem Rauschen hervorhob. Mein Magen tobte. Erneut vernahm ich die Worte des Mannes vor mir. Dieses Mal klarer und deutlicher.
"Geht es dir gut? Hey, Kleiner!" Ich öffnete leicht den Mund aber es kam kein Laut aus meiner Kehle, so sehr ich mich auch anstrengte. Mit der Zunge leckte ich mir über meine trockenen und spröden Lippen. Ich ächzte und bewegte vorsichtig die Finger meiner linken Hand. Die Kuppen streiften über den rauen Boden. Jetzt griff der Mann mich behutsam an den Schultern und richtete mich langsam auf. Es fühlte sich an, als würde mein Kopf explodieren. Der Schmerz an meiner Schädeldecke wurde immer stärker.
"Mia, ruf einen Krankenwagen, er blutet am Kopf!" Ruckartig griff ich mir an die Wunde. Eine klebrig-feuchte Konsistenz benetzte meine Finger.
Blut.
Der milchige Schleier,der sich über meine Augen gelegt hatte und meine Sicht trübte, hatte sich mittlerweile aufgelöst und ich konnte die Konturen des Gesichtes vor mir scharf und deutlich erkennen. Der Mann musste so um die vierzig Jahre alt sein. Sein Kopf war nahezu kahl, dafür schatttierte ein schwacher Drei-Tage-Bart sein Kinn und seine Wangen. Unter seinen kleinen, freundlichen Augen prankte eine etwas zu lange, gebogene Nase. Auf dieser saß eine riesige rotbraune Hornbrille, deren Bügel hinter den zu großen Ohren verschwanden. Generell wirkte alles an seinem Gesicht ein wenig überproportioniert. Jetzt lächelte er mich an.
"Keine Sorge, Kleiner, du kommst so schnell wie möglich ins Krankenhaus." Er half mir vorsichtig, aufzustehen. Ich blickte mich um. Im Hintergrund konnte ich durch den schwachen Schein seiner Taschenlampe eine weitere Person ausmachen, eine Frau. Erst jetzt bemerkte ich, dass beide eine Poizeiuniform trugen.
"Wie heißt du denn, Kleiner?", fragte er nun. Ich hustete, ehe ich einen Ton von mir geben konnte.
"Ich... ", begann ich mit zittriger, kratziger Stimme, "ich weiß nicht... " Er schaute mich etwas verdutzt an und öffnete den Mund um etwas zu sagen, doch bevor er das Gespräch vertiefen konnte, hörten wir auch schon die Sirene des sich nähernden Krankenwagen.

Ich lag auf einer weißen Plastiktrage im hinteren Teil des Fahrzeugs. Zwei Sanitäter waren aus dem Wagen gestiegen und hatten mich hierher verfrachtet. Ich schwitzte. Ich spürte, wie mein feuchtes Haar strähnig auf meiner Stirn klebte, ebenso, wie mein T-Shirt an meinem Körper. Mir ging es immer elender. Auf dem Weg ins Krankenhaus sprach niemand ein Wort mit mir.
Nur wenige Minuten später lag ich in einem weichen, weißen Bett in einem der Patientenzimmer. Einer der Ärzte hatte mir gesagt, ich solle mich ausruhen und noch ein wenig schlafen, doch das konnte ich nicht, dazu war ich viel zu verwirrt. Seit gefühlten Stunden lag ich hier, und starrte angestrengt die blütenweiße Decke des Zimmers an. Meine rechte Hand schnellte kurz zu meinem Kopf. Sie hatten mir einen dicken Verband darumgewickelt, um die Blutung zu stillen. In meiner Hand steckte zudem eine kleine Kanüle, sie durch einen dünnen, durchsichtigen Schlauch mit einem kleinen Kunststoffbäutelchen verbunden war. Ich schloss die Augen und versuchte, ein wenig zu entspannen. Doch plötzlich wurde die Tür geöffnet und ein Arzt trat herein. Er war ein hochgewachsener, hagerer Mann mit graublondem Haar und fahler Haut. In seiner Hand hielt er ein Klemmbrett und einen Kugelschreiber. Er lächelte mich freundlich an.
"Guten Tag." Er streckte mir die Hand hin. Ich ergriff sie. "Mein Name ist Mr. Mortimer, und deiner?" Ich räusperte mich und leckte mir über die Lippen. "Ich weiß nicht", antwortete ich wahrheitsgemäß. Zu meinem Erstaunen schien er weder verwirrt noch beunruhigt zu sein. Im Gegenteil, er strahlte pure Gelassenheit aus. Ich musterte ihn etwas genauer. Er dürfte wohl so um die 35 Jahre alt sein. Sein Gesicht wies keinerlei Falten oder Unreinheiten auf, bis auf einen winzigkleinen dunkelbraunen Leberfleck unmittelbar unter dem linken Auge. Diese waren klein und stechend und die Iris war in eine kühle, eisblaue Farbe getaucht. Seine Nase war gerade und fein geschnitten und darunter kamen viel zu schmale Lippen zum Vorschein. Bei seinem Anblick huschte ein Schauder durch meine Glieder. Seine Erscheinung hatte etwas ungemein unbehagliches an sich, doch meine Gedankengänge wurden dadurch unterbrochen, dass die Tür ein weiteres Mal ruckartig aufgestoßen wurde. Schnellen Schrittes traten der Polizist von vorhin und seine Kollegin ein. Nun konnte ich auch diese eingehender betrachten. Sie war schlank, groß und hatte glänzendes schwarzes Haar, das sich elegant um ihren Kopf schlängelte.
"Wie geht es ihm?", flüsterte der Polizist dem Arzt leise zu. Trotzdem verstand ich jedes Wort. Er musterte mich aus dem Augenwinkel.
"Er hat vermutlich eine Gehirnerschütterung und wie es aussieht hat er auch eine Amnesie davongetragen", antwortete der Arzt. "Allerdings leidet er unter keinen inneren Verletzungen und auch die Kopfwunde ist nicht lebensgefährlich." Er sagte es deutlich, damit auch ich es verstehen konnte.
"An was kannst du dich erinnern?", fragte nun der Polizist. Ich dachte angestrengt nach, kam aber zu keinem Ergebnis.
"Nichts", antwortete ich schließlich. Wenn man es aussprach klang es noch viel schlimmer. Ich wusste weder meinen Namen noch mein Alter, ich erinnerte mich nicht mehr an meine Eltern, Ich wusste nicht mal, wie ich aussah.
"Wirklich gar nichts?", fragte er nochmals. Ich schüttelte den Kopf. "Mein Name ist Ernest Green." Auch er streckte mir die Hand hin, die ich mit einem schwachen Lächeln ergriff. Die Polizistin kam jetzt einen Schritt näher. Sie nickte mir zur Begrüßung zu.
"Mia Sherman." Sie ließ eine kleine beigebraune Papiermappe auf den Plastiknachttisch neben mir fallen.
"Was hast du eigentlich bei dem Bahnhof gewollt, weißt du das? Der ist immerhin schon seit ich in London bin geschlossen." Erneut schüttelte ich den Kopf. Mir ging es immer noch miserabel.
"Ich muss mal aufs Klo", sagte ich. Der Arzt machte mich von der Kanüle los und deutete auf eine Tür direkt an der gegenüberliegenden Wand. Langsam schlurfte ich auf sie zu. Dahinter fand ich mich in einem kleinen Waschraum wieder. Ich konnte die Stimmen der anderen durch die Tür hören. Ich hatte gelogen, eigentlich musste ich gar nicht aufs Klo, ich brauchte nur meine Ruhe. Vor mir befand sich ein Waschbecken, darüber ein Spiegel. Ich machte einen Schritt darauf zu. Sie berieten draußen, was sie mit mir machen wollten. Ich hob meinen Kopf und blickte in den Spiegel. Das mir fremde Gesicht eines etwa 15 jährigen Jungen starrte mich an. Es war leicht blass, mit blauen Augen darin, die von schwachen Augenringen schattiert wurden. Feine Augenbrauen schwangen sich darüber und unter der Nase befand sich ein bleiches, trockenes Lippenpaar. Die Stirn wurde von ein paar schwarzen Haarsträhnen verdeckt, die von Schweiß zusammengeklebt wurden. Ich betrachtete mich noch einen kurzen Augenblick, dann öffnete ich den Wasserhahn. Mit den Händen bespritzte ich mein verschwitztes Gesicht mit Wasser und kühlte es. Anschließend drückte ich mir zwei der Papiertücher, die auf der Ablage darüber lagen, ins Gesicht. Ich öffnete die Tür und trat wieder ins Krankenzimmer. Die anderen hatten mir den Rücken zugewandt und diskutierten. Ich beschloss, mich wieder aufs Bett zu setzen. Plötzlich fiel mein Blick auf die braune Papiermappe neben mir. Neugierig griff ich danach und blätterte sie durch. Mr Green, Mrs Sherman und Doktor Mortimer unterhielten sich noch immer angeregt.
"Er war es nicht", sagte ich plötzlich. Mr Green und die anderen drehten sich langsam zu mir um und sahen mich überrascht an.
"Was? ", fragte er nun etwas verdattert. Ich stand vom Bett auf und hielt die Akte in die Luft. Dann deutete ich auf ein Foto. Darauf war eine Frauenleiche zu sehen, die durch einen Strick an der Decke befestigt war.
"Ihr Mann kann es nicht gewesen sein. Dafür ist er zu stark." Ich deutete auf eine exakte Stelle des Seils. "Dort ist der Strick aufgeraut und zwar ziemlich doll. Das kann nur bedeuten, dass die Leiche hochgezogen wurde, indem man das Seil über den hölzernen Dachbalken geworfen hat und anschließend kräftig daran gezogen wurde. Die aufgerauten Stellen zeigen allerdings, dass dies dem Täter erst beim wiederholten mal gelungen sein kann." Ich machte eine Pause, um Luft zu holen. "Hier steht allerdings, ihr Mann würde als Fitnesstrainer arbeiten und zudem ist die Tote sehr zierlich. Es ist unwahrscheinlich, dass er so viele Versuche braucht, um sie hochzuziehen, dass das Seil davon dermaßen stark ausfranst. Da die einzige weitere Verdächtige ohne wasserdichtes Alibi ihre Schwester ist, muss diese sie umgebracht haben." Mr Green und die anderen starrten mich etwas verwundert an. Ich fuhr ungehindert fort: "Zudem ist es sehr unwahrscheinlich, dass jemand Fremdes von außen in die Wohnung eingedrungen ist. Jemand, der in keinerlei Beziehung zum Opfer steht würde sich wohl kaum die Mühe machen, einen vermeintlichen Selbstmord zu inszenieren, außerdem gibt es laut Akte keine Einbruchsspuren..."
"Aus welchem Grund kann es denn nicht wirklich ein Selbstmord gewesen sein?", platzte nun Mr Green dazwischen. Ich grinste verschmitzt und deutete noch mal auf das Foto.
"Da steht kein Stuhl oder Hocker unter der Leiche, wie konnte sie also den Kopf in die Schlinge stecken? Aber das wussten Sie doch schon, sonst hättet ihr doch niemanden nach seinem Alibi befragt..." Ehe ich fortfahren konnte, kam Mrs Sherman auf mich zu und entriss mir die Akte. "Die dürftest du eigentlich gar nicht lesen", sagte sie harsch und sah mich mit einem vorwurfsvollen Blick an. Mr Green jedoch hatte bereits sein Handy gezückt und ans Ohr gepresst. Nach allem was ich verstand telefonierte er mit jemandem namens 'Inspektor Lansburry'. Dann drehte er sich zu uns um.
"Inspektor Lansburry sagte, er würde der Spur sofort nachgehen."

Etwa eine dreiviertel Stunde später spazierte ich mit Mr Green über den Krankenhaushof. Er hatte mich gebeten, ihn Ernest zu nennen.
"Du kommst wohl nicht aus England", sagte er auf einmal. Ich schaute überrascht auf. "Dein Akzent ist eher amerikanisch." Ich lächelte ihn an.
"Stimmt. Aber sie sind doch auch nicht von hier." Er lächelte zurück.
"Nein", antwortete er, "ich kam vor fünf Jahren hierher. Geboren bin ich eigentlich in Schottland." Nachdenklich schaute er mich an. Ich war relativ groß, deshalb musste ich nicht extra den Kopf heben, um ihn anzuschauen. "Du wirst irgendwo wohnen müssen, solange wir nicht wissen, wo du hingehörst und ich könnte ein wenig Gesellschaft gebrauchen." Ich nickte. Er fuhr fort: "Und außerdem müssen wir dich irgendwie rufen, hast du schon Übergangsvorstellungen?"
"Jack", antwortete ich, ohne groß zu überlegen. "Ich glaube mein Name könnte Jack sein."

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