Lesly

631 91 110
                                    

Wenn der Träumende irgendwann stirbt, was geschieht dann mit dem Traum? Und was mit den Träumen, an die man sich nicht mehr erinnern kann? Wo gehen sie hin, sobald man aufwacht? Gab es vielleicht irgendwo eine riesige Sammelstelle für all die verlorenen Träume, die aus den Köpfen entflohen waren und nun zurück zu ihren Besitzern finden mussten?

Lesly mochte diese Erklärung, die sie sich ausgedacht hatte. Sie mochte die Idee, dass all die Träume, die sie geträumt und dann vergessen hatte, einfach nur irgendwo da draußen waren und nach ihr suchten. Und wenn sie sie irgendwann gefunden hatten, dann würde sie sich an all die Dinge wieder erinnern, die sie in ihrem Schlaf erlebt hatte. Dann würde sie sie all ihren Freunden erzählen können, jedem einzeln, damit sie sich wie etwas Besonderes fühlen würden.

Miss Millywiggle würde leise kichern und ihr einen Schluck Tee anbieten, der grummelige Franklin hätte bestimmt nicht viele Worte übrig, würde ihr aber mit offenen Ohren lauschen, die kleine Kitty hätte sicherlich die größten Augen der Welt, wenn sie von all den Abenteuern hören würde und die extravagante Mademoiselle würde sie sicherlich dafür schalten, dass sie an solche Albernheiten noch immer glaubte.

„Du bist schon ein so großes Mädschen", würde sie mit ihrem leicht französischen Akzent sagen, den sie sich auch nach all diesen Jahren nicht abtrainieren konnte. „Es wird Zeit, dass du disch um die wirklisch wischtigen Dinge kümmerst, Lesly, und nischt nur diesen 'irngespinsten nachjagst."

Aber das würde sie nicht tun. Lesly liebte ihre Träume, denn sie entführten sie immer in die schönsten Welten. Und besonders am Tag, wenn es draußen grau und kalt war, versteckte sie sich in ihrem eigenen Schloss und hielt Bälle und Feste ab und kleidete sich wie eine echte Prinzessin.

„Lesly, hör auf zu träumen", ermahnte sie die Englischlehrerin und Lesly blickte mit ihren glasigen Augen hoch. „Wir haben noch ein paar Minuten der Stunde übrig, versuch noch ein bisschen mitzumachen, ja?" Sie lächelte ihr aufmunternd zu, doch Lesly erwiderte es nicht.

Stattdessen wandte sie ihren Kopf nach rechts, wo sie Miss Millywiggle sah, die gerade genüsslich an einem Tee nippte und ihr einen vielsagenden Blick zuwarf. Miss Millywiggle trug einmal wieder ihr schönstes Ausgehkleid, das mit den vielen Rüschen und Schleifen, und hatte sich außerdem einen weißen Hut auf den Kopf gesetzt, der sie vor der Sonne schützen sollte. Mit ihren schlanken Fingern hielt sie immer eine Teetasse umklammert, egal wo sie waren. Miss Millywiggle liebte Tee und dazu am besten ein kleines Törtchen. Damit wäre ihr Tag schon perfekt, egal, ob es regnen oder schneien würde. Lesly hatte Miss Millywiggle noch nie traurig erlebt.

„Spielen wir gleich was, ja?", fragte die kleine Kitty, die schnurrend um ihre Beine schlich und ab und zu ihren Rücken streckte, als ob sie vom vielen Liegen ganz verspannt wäre. Lesly fuhr mit der Hand unter den Tisch und kraulte die rosafarbende Katze mit den weißen Flecken und der herzförmigen Nase dann kurz am Kopf, ehe sie lächelnd nickte.

Natürlich würden sie zusammenspielen, so wie jeden Tag. Kitty war immer bei ihr und wollte immer spielen. Und Lesly spielte nur zu gerne mit ihr, denn sie liebte es ebenfalls, wenn sie zusammen in ihrem Schloss waren und Prinzessinnen waren, die mit wunderbaren Kleidern durch den Ballsaal tanzten. Allerdings war Kitty in ihrem Schloss nie eine Katze.

„Aber zuerst erledigst du deine 'ausaufgaben!", ermahnte sie Mademoiselle, die mit strengem Blick hinter ihr stand und mit ihren feinsäuberlich weißen Handschuhen immer wieder über ihre Stuhllehne strich. „Und dann müssen wir deine Haare endlich mal wieder schneiden!"

Jeden Tag sagte Mademoiselle ihr, dass sie ihr die Haare schneiden müssten und wie jeden Tag taten sie es nicht. Aber Lesly wollte ihre Haare gar nicht schneiden lassen. Sie mochte ihre Haare und sie mochte es, wie man sie auf jedem Kleidungsstück von ihr finden konnte, diese langen, hellblonden Strähnen, die schon fast so aussahen, als wären sie aus Stroh.

LeslyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt