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Als ich mich in der Dunkelheit mit dem Rücken gegen die kalte Wand der Lagerhalle drückte, fragte ich mich, was zur Hölle ich hier eigentlich machte.

Meine Finger klammerten sich krampfhaft um den Dolch in meiner linken Hand. Mein Herz klopfte laut in meiner Brust und ich konnte regelrecht spüren, wie das Blut durch meine Venen rauschte und jede einzelne Zelle mit Adrenalin voll pumpte. Mein Körper war bereit für den Kampf. Die Sinne waren geschärft, die Aufmerksamkeit aufs Maximum hochgeschraubt und dem unangenehmen Pochen hinter meinen Augen nach zu urteilen, waren sogar meine übernatürlichen Fähigkeiten bereit für ihren Einsatz. Ich konnte das Biest in der Finsternis mit jedem meiner Atemzüge spüren. Es bewegte sich nur langsam vorwärts und zog die langen Krallen schlurfend über den Betonboden. Ich fühlte die Kälte, die von ihm ausging; eine unnatürliche Kälte, die mich zittern ließ, obwohl die Luft im Inneren der Lagerhalle stickig und warm war. Doch das allerschlimmste war der Gestank, der sich in allen Winkeln des Gebäudes breit gemacht hatte: ein süß-saurer Duft aus Verwesung, vertrocknetem Blut und Tod.

Das Biest hatte mich nicht entdeckt. Noch nicht. Aber ich wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis es meine Fährte aufnehmen würde. Ghule hatten einen ausgezeichneten Geruchssinn – und sie waren um einiges schneller, als ihr unproportionierter Körperbau annehmen ließ. Ihre einzige Schwäche war Licht, doch davon gab es im Inneren der Lagerhalle nicht den kleinsten Funken. Natürlich nicht. Das hätte die ganze Sache auch viel zu einfach gemacht.

Ich hätte angreifen können, bevor der Ghul mich entdeckte, aber ich nutzte die kurze Stille lieber, um im Kopf nochmals alle möglichen Taktiken durchzugehen. Ich hatte die letzten fünfzehn Jahre auf diesen Moment hingearbeitet. Seit meiner Geburt hatte jeder Tag mich einen Schritt weiter in diese stickige Lagerhalle geführt und nun, da ich endlich hier war, durfte ich mir keine Fehler erlauben.

Es war nicht so, dass ich unbedingt hätte hier sein wollen. Ich hatte schlicht und einfach keine andere Wahl. Ich war eine Hüterin. Es war meine Aufgabe, mein Leben – ohne Zögern und ohne weitere Gedanken – immer und immer wieder für das Wohl anderer aufs Spiel zu setzen und selbstlos hinzugeben. Nicht, dass sterben heute eine Option gewesen wäre. Wie sollte ich die Blicklosen künftig vor den Kreaturen der Anderswelt beschützen können, wenn ich nicht einmal mit einem läppischen Ghul fertig wurde?

Ich hätte ihn von hinten attackieren können, das kurze Überraschungsmoment nutzen, um ihn aus der Bahn zu werfen. Aber dann musste der erste Schlag perfekt sein. Ein verletzter Ghul war ein wütender Ghul – und ein wütender Ghul war ein unberechenbarer Gegner. Frontal angreifen kam ebenfalls nicht infrage. So würde ich zwar sein Verhalten besser einschätzen können, aber der Kampf würde sich dadurch unvermeidbar in die Länge ziehen und mich ans Ende meiner Kräfte treiben. Ich musste nicht nur schnell sein, sondern auch präzise. Außerdem hatte ich einen entscheidenden Nachteil: Mit meinen 155,3 Zentimeter – ja, auf die drei Millimeter bestand ich! – würde ich den Ghul kaum durch meine Körpermasse übertrumpfen können.

Alles in allem war ich entschieden im Nachteil. Das war zu erwarten gewesen. Immerhin war das der Sinn der ganzen Sache.

Ich schloss die Augen. Wenn ich mich konzentrierte, konnte ich hören, wie der Ghul ein und aus atmete. Hatte er meinen Geruch schon aufgenommen? Vielleicht. Wahrscheinlich. Ich musste mir auf jeden Fall etwas einfallen lassen.

Eine Fernwaffe wäre ideal gewesen, aber ich hatte bloß den alten Dolch, der in meiner Familien schon seit einigen Generationen weitergegeben wurde. Mit den Fingerspitzen fuhr ich über das Muster in seinem Griff. Sollte ich ihn werfen? Das war eine Möglichkeit. Ich war schon immer gut im Messerwerfen gewesen – gut genug, um auch in völliger Dunkelheit einen Treffer zu landen. Doch leider änderte es nichts an der Tatsache, dass ich mit einem Wurf nicht genug Kraft aufbringen konnte, um den Ghul tatsächlich niederzustrecken.

Anderswelt: Schattensuche (Band 1 der Anderswelt-Saga) [Leseprobe]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt