Die Sonne und der Himmel

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Nagreb, Königreich Nenin 1060 n.G.

»Der Rat ist jetzt bereit, Euch zu empfangen«, sagte Nihad freundlich und verbeugte sich förmlich vor dem Abgesandten der Sonnenkirche. Dieser erhob sich von einer kleinen Steinbank, auf der er gesessen hatte und verbeugte sich gleichfalls vor dem jungen Botschafter der Nenin.

Offensichtlich hatte der Abgesandte, der sich ihm als Bagorian vorgestellt hatte, die Wartezeit gut genutzt. Man hatte ihm ein Zimmer und Essen zur Verfügung gestellt. Die Strapazen seiner langen Reise waren ihm beinahe nicht mehr anzusehen. Sein braunes, kurzes Haar war ordentlich gekämmt, sein Vollbart gestutzt und er hatte gleichfalls ein frisches Gewand angelegt. Es war zwar nur eine einfache beige Tunika, die ohne schnörkelige Verzierungen auskam, aber dies war unwichtig.

Zufrieden lächelte Nihad, denn bei den Nenin galt es als unhöflich, ungewaschen und mit dreckiger Kleidung jemanden gegenüberzutreten. Es war ein Zeichen der Wertschätzung, wenn man Zeit aufwendete, um sich für eine Unterhaltung entsprechend zurecht zu machen. Egal wie wichtig Bagorians Anliegen auch sein sollte, der Respekt, den er verloren hätte, wenn er in seiner dreckigen Robe vor den Rat getreten wäre, hätte seine Reise beinahe hinfällig gemacht, da niemand ihm Gehör geschenkt hätte. Dennoch fragte Nihad sich, was so wichtig sein sollte, dass der Abgesandte der Sonnenkirche keinen weiteren Aufschub duldete. Nach eigenen Angaben hatte er zwei Pferde zu schunden geritten, um Nagreb so schnell wie möglich zu erreichen.

»Ich danke Euch«, erwiderte Bagorian höflich.

»Wenn Ihr mir bitte folgen wollt?«, forderte der Nenin ihn auf und schritt wieder durch die Tür, zurück ins Freie.

Bagorian nickte und folgte ihm.

Nihad entging nicht, dass der Abgesandte aufmerksam seine Umgebung musterte, während er ihm stumm hinterher lief. Er lächelte. Für Fremde musste Nagreb tatsächlich so etwas wie ein bauliches Wunderwerk darstellen. Schließlich gab es in ganz Perdosien keine Stadt, die vergleichbar mit der Hauptstadt der Nenin war. Hoch oben in den Bergen errichtet konnte man sie nur mit Hilfe der geflügelten Pferde oder einem Lastenzug erreichen, der allerdings hauptsächlich für Waren genutzt wurde. Unzählige Plateaus befanden sich auf den einzelnen Hügelspitzen, die man durch Treppen oder Brücken erreichen konnte. Am äußeren Rand befanden sich stets große gebogene Steinsäulen, welche die Plateaus schützend umschlossen und eine Art Kuppel bildeten. Ihre Decke war mit Glas verstärkt und schützte sie so vor Regen und Wind. An ihren äußeren Enden waren auch große Türme erbaut worden, die sie als Ausguck, aber auch zu Verteidigungszwecken nutzten.

»Wie viele Nenin leben hier?«, wollte Bagorian wissen, während er ein paar Nenin nachschaute, die an ihnen vorbei flogen.

»Ungefähr siebzigtausend«, antworte Nihad knapp und blieb auf einer großen, überdachten Brücke stehen, welche die Gastunterkünfte und den großen Hauptplatz im Zentrum der Stadt verband. Er zeigte auf eine kleine Kuppel, die sich ein paar hundert Meter entfernt von ihnen befand. Obgleich die Wolken die Sicht einschränkten, konnte man dennoch eindeutig die weißen, mehrstöckigen Gebäude erkennen, die sich dort befanden. »Dort drüben befinden sich ausschließlich Wohnungen, die Platz für ungefähr dreihundert Nenin bieten. Es gibt mehrere dieser Kuppeln in der ganzen Stadt.«

»Dieses Plateau befindet sich beinahe ganz am äußeren Rand der Stadt«, bemerkte Bagorian. »Ist es nicht gefährlich für die Familien, wenn sie soweit vom Kern der Stadt leben?«

»Nein«, begann Nihad. »Die Kuppel ist mit Kristallen versehen, welche die Wirkung von Magie einschränken. Die Wachtürme tun ihr Übriges.« Er drehte sich zum Abgesandten der Sonnenkirche um. »Auf Grund der Lage unserer Stadt, wäre es wohl auch einzig den Arani möglich uns anzugreifen. Glücklicherweise hegen wir keinen Groll gegen das Volk der Tiergänger. Doch vermutlich wären es ihnen ohnehin nicht möglich uns zu besiegen.«

Bagorian nickte und warf dann einen nervösen Blick nach unten. Die Brücke war stabil gebaut, doch für einen Menschen musste die Höhe wohl ein Gefühl des Unbehagens transportieren. Manchmal vergaß Nihad, dass es den anderen Völkern Perdosiens nicht vergönnt war zu fliegen. Einzig das Volk des Himmels besaß Flügel, stark genug, sie selbst zu tragen. Daher nutzten sie ihre Brücken auch eher selten. Die meisten Nenin flogen einfach zum nächsten Plateau, mit Ausnahme der Kinder natürlich, die erst später das Fliegen erlernten.

Nihad räusperte sich. »Ich nahm an, Euer Begehren entsprach einer gewissen Dringlichkeit. Wenn Ihr mir dann weiter folgen wollt. Wir sollten den Rat nicht länger warten lassen.«

»Verzeiht. Natürlich«, sagte Bagorian. »Es ist nur so, dass ich noch nie in Nagreb war.«

»Das ist nicht zu übersehen. Ich führe Euch gerne etwas herum und zeige Euch die Stadt, wenn Eure Audienz vorüber ist.«

»Das würde mich freuen«, antwortete Bagorian höflich, konnte sich aber ein Lächeln nicht verkneifen.

Nihad konnte Bagorians Begeisterung nachvollziehen. In einer Menschenstadt dieser Größe herrschte stets eine gewisse Hektik und auch Lautstärke, nicht so hier. Nihad liebte die Gelassenheit seines Volkes und die Ruhe, die hier alles umgab. Alles was sie taten, taten sie bedacht und stets im Angesicht aller Konsequenzen. Hektik war ihnen fremd, und doch faszinierte Nihad, wie die Völker der Menschen in ihrem Chaos leben konnten. Wie sie ihre Konflikte austrugen und nicht davor zurück schreckten auch mal offene Worte zu finden, wenn sie etwas störte.

Seine aufgeschlossene Art und sein Wissensdrang hatten ihm den Posten des Botschafters eingebracht, wobei die Fürsprache seines Onkels, der ebenfalls einst König der Nenin war, sicherlich hilfreich gewesen war.

Bagorian folgte Nihad weiter durch ein schier unendliches Geflecht aus Brücken und Treppen, bis sie schließlich den Himmelspalast erreichten. Es war das höchste Bauwerk der Stadt und das einzige, welches nicht von einer Kuppel umschlossen war. Unzählige Türmchen, die durch Brücken mit dem Palast verbunden waren, ließen das Gebilde verspielt wirken. Etliche Wachen patrouillierten in der Luft und umkreisten die Türme und die nähere Umgebung.

Nihad durchschritt einen großen Torbogen und nickte ein paar Männern knapp zu, die mit Speeren bewaffnet den Eingang bewachten. Er führte den Abgesandten weiter durch einige Gänge, bis er schließlich vor einer großen Tür innehielt.

»Es wird von Euch erwartet, dass Ihr Euch vor allen Königen der vergangenen Tage verbeugt und ihnen dadurch Respekt zollt«, wandte er sich an Bagorian. »Konzentriert Euch nicht nur auf König Rovik. Sein Wort zählt im Rat nicht mehr als das der anderen. Man erwartet von Euch, dass Ihr Euch vorstellt, alle Anwesenden namentlich begrüßt und Euer Anliegen deutlich macht, danach werdet Ihr erst sprechen, wenn Ihr dazu aufgefordert werdet. Bis dahin werdet ihr vor dem König stehen bleiben. Erst wenn man Euch einen Stuhl anbietet, dürft Ihr euch an der Debatte beteiligen. Habt Ihr alles verstanden?«

Als Botschafter der Nenin war es nicht nur Nihads Aufgabe die Bräuche und Sprachen der anderen Völker zu verstehen, sondern auch Fremde in ihre eigenen einzuweisen. Ein reibungsloser Ablauf, aber besonders die Beachtung der Höflichkeiten war ungeheuer wichtig. Es würde auf ihn zurückfallen, wenn Fremde sich nicht entsprechend verhielten, daher spürte auch Nihad, wie eine gewisse Aufregung in ihm aufstieg, denn immerhin war er noch nicht allzu lange Botschafter seines Volkes und musste selbst noch viel lernen.

Bagorian nickte knapp. »Verstehe.« Der Abgesandte straffte die Schultern und folgte Nihad durch die Tür.



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