I D I O T E N

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T R I S T A N

"Wie siehst du denn aus?", blaffte ein Tristan um einen Kopf überragender Typ. Ehe Tristan sich versah, wurde er gegen einen Spind geschubst. Der Freund des Typen, der ihn von der Seite angemacht hatte, obwohl Tristan den Kopf gesenkt durch den Schulflur getigert war, lachte, als wäre es die lustigste Sache der Welt: zu sehen, wie ein Streber gegen die Spinde geschubst wurde.
"Was macht ihr da?" Eine einschneidende Stimme vom anderen Ende des vollen Flurs.
Tristan kniff die Augen zusammen, um ganz sicher zu sein, dass es Florence war. Er sah zu, wie sie einen Weg um die paar Schüler bahnte, die gerade im Flur waren und sich einen Scheiß um Tristan scherten. Nicht nur Florence' Schritte war einnehmend - auch ihre Stimme war es. Die Leute wichen zur Seite - und das war ihr Glück - denn wenn sie nicht zur Seite gegangen wären, hätte Florence sie einfach über den Haufen gerannt, ohne Rücksicht auf Verluste.
"Ihr Idioten", blaffte sie die Jungs an, als sie vor Tristan stehen blieb.
"Lass ihn sofort los, Rick", sagte sie zu dem Typen, der Tristan noch immer festhielt. Das Lachen, das der andere Junge gelacht hatte, war ihm im Halse stecken geblieben.
"Seid ihr eigentlich von allen guten Geistern verlassen?", zischte Florence ihnen zu. "Lasst ihn verdammt nochmal in Ruhe."
Obwohl Rick Tristan losgelassen hatte, war er noch immer auf einen Konflikt aus.
Tristan schwor sich, dazwischenzugehen, wenn er Florence angehen würde (Innerlich war er ziemlich sicher, dass er das nicht nun würde. Selbst wenn es um Florence ging. Er hätte ohnehin nichts ausrichten können).
"Du hast mir gar nichts zu sagen", sagte Rick zu Florence.
"Gott sei Dank", lachte Florence. "Ich würde mich schämen, wenn ich es hätte - da müsste ich mir ja mein ganzes Leben lang Vorwürfe machen, welch einen Idioten ich doch aufgezogen habe."
Rick wusste für einen Augenblick nichts zu sagen und auch Tristan schaute wie ein Auto.
"Worauf wartest du, Schmalzlocke?", fragte Florence Tristan. "Zisch ab. Wir sehen uns später."
Sie hob die Hand zum Gruß und ging selbst los.
Tristan beeilte sich, um die nächste Ecke zu kommen. Er lehnte sich an die Wand und schloss erschöpft die Augen.
Zu seiner Überraschung war Florence noch nicht weitergegangen.
"Lasst ihn in Ruhe", sagte sie ganz ruhig zu den Jungs. "Er hat euch nichts getan."
"Bist du seine Mama, oder was?", blaffte Ricks Freund und lachte dumm.
"Nee", erwiderte Florence. "Aber eine Freundin."
Und Rick prustete samt Freund los.
"Haste gehört?"
Tristan sah, dass Rick seinem Freund den Ellenbogen in die Hüfte rammte. "Streber-Boy hat eine Freundin!" Sie kriegten sich gar nicht mehr ein.
"Selbst wenn", sagte Florence ruhig. "Einen Scheißdreck geht es euch an."
Und dann hörte er, wie Florence endgültig davonging. Er hörte es daran, dass die anderen Schritte aufhörten - Schüler, die ihr wieder Platz machten.
Warum hatte Florence das gesagt?
Tristan war ein Junge, der Schach und Modellautos mochte. Florence hatte mindestens doppelt so viele Muskeln wie er und mindestens genauso viele Freunde wie Tristan Modellautos, sie war größer als er und arbeitete in einem Blumenladen - einem Ort, wo Farben eine große Rolle spielten. Sie passten nicht in das Leben des jeweils anderen. Und Tristan hatte eigentlich gedacht, dass Florence das gewusst hätte.

"Florence!" Tristan packte seine Freundin am Ärmel ihres Hockeytrikots. Sie drehte sich herum und lächelte breit.
"Können wir reden?" Tristans Worte klangen bittend, fast flehend.
"Klar", erwiderte Florence und ging mit Tristan in den Schulgarten, wo sie jetzt, in der Mittagspause, ungestört waren.
Florence hockte sich auf eine Bank, setzte ihren Rucksack neben sich auf den Boden ab und sah dann aufmerksam zu Tristan auf.
"Es gibt da etwas, was ich dir sagen muss, Florence." Tristan glaubte, keine Luft zu bekommen.
Er atmete tief durch. Er musste, dass das, was er sagen würde, für Florence unerwartet kam. Doch er wusste es schon lange. Schon in der Grundschule war es ihm aufgefallen.
"Ich bin homosexuell. Schwul."

Tristan hatte befürchtet, dass Florence so reagieren würde. Sie saß ein wenig unbeweglich da und sagte nichts. Tristan war sich ziemlich sicher gewesen, dass die ganzen Jugendbücher, in denen die Freunde der ganzen Schwulen, die es darin gab, das Schwulsein ziemlich locker nahmen, gelogen waren. Tristan hatte es befürchtet.
Er malte sich aus, wie Florence ohne ein Wort zu sagen, aufstehen und davongehen würde, um in der Schule herumzuerzählen, wie dumm sie gewesen war, sich mit einem Versager wie ihm herumgeschlagen zu haben. "Ich wollte nicht, dass er ausgeschlossen wird", würde Florence großspurig sagen. "Aber ich täuschte mich. Er ist einer, der ausgeschlossen werden muss." Tristan wartete. Wartete darauf, dass Florence aufstehen und genau das tun würde, was er erwartete.

Stattdessen wandte sie ihm langsam den Kopf zu.
"Ist ja beschissen", flüsterte sie.
Tristan wollte fragen, warum, aber er wusste es und biss sich auf die Zunge. Niemand wollte gerne mit einem Schwulen befreundet sein. Und Florence Becker schon drei Mal nicht. Was hatte er sich dabei gedacht?
Florence stand auf und ging im Garten hin und her.
"Das geht gar nicht", flüsterte sie vor sich hin.
"Wenn du damit nicht leben kannst, solltest du gehen", erwiderte Tristan heiser.
Florence sah verwirrt auf, als wäre sie aus einer fernen Welt wieder in diese gerutscht.
"Oh", machte sie. "Das mit dem Schwul-Sein geht schon klar. Aber die Sache ist die: Wir sind ein Klischee. Du bist der schwule beste Freund. Das geht gar nicht." Sie stemmte den Arm in die Hüften. "Ich will kein Klischee sein."
Tristan fiel ein Stein vom Herzen. "Das heißt, du bist mir nicht böse?", fragte er erleichtert.
"Weswegen?", fragte Florence verwirrt und legte den Kopf schief.
"Wegen des Schwul-Seins", erwiderte Tristan schnell.
"Machst du Witze?", fragte Florence. "Das sucht man sich doch nicht aus. Und wenn man schwul ist, ist man's eben. So einfach ist das. Ist doch cool. Ich meine – wenn Frauen nur Männer lieben und umgekehrt, würde es gar nicht reichen. Denn die Bevölkerung besteht zu 50,6% aus Frauen – und nur zu 49,4% aus Männern. Demnach muss es viele Lesben geben, damit irgendwann alle den perfekten Partner finden. Nicht, dass ich eine sein will. Ich sag's nur."
Tristan setzte sich. "Wusstest du, dass das an einer geringeren Präferenz zum X-Chromosom während des Befruchtungsprozesses der Mitose liegt?"


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⏰ Letzte Aktualisierung: Aug 13, 2017 ⏰

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