Kapitel 6

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Lucien starrte in den Himmel. Erneut zog ein Sommergewitter auf und er fragte sich, was seine Freunde oben im Himmel wohl gerade taten. Als sich der Himmel verdunkelte und der Donner näher kam, machte er sich auf den Weg. Wohin wusste er selbst nicht. Er musste daran denken, was Judy sagte. Sie musste ihn jetzt für einen totalen Idioten halten, vermutlich hatte er sie für immer verloren. Aber was brachte es ihm ständig hinter ihr her zu laufen? Er war nicht mehr für sie verantwortlich, musste sich aber eingestehen, dass er immer noch Gefühle für Judy hatte.
Lucien lief aus dem Park hinaus auf die Straße. Sie war menschenleer, alle hatten sich vor dem Unwetter in Sicherheit gebracht. Lucien war das egal. Ihm gingen Judys Worte nicht aus dem Kopf und er gestand sich ein, dass sie Recht hatte. Wenn ihm wirklich etwas an ihr lag, würde er ihr alle Fragen beantworten. Dies hatte aber einen Haken: Obwohl Lucien aus dem Himmelreich verbannt wurde, stand er immer noch unter Beobachtung. Er hätte ein Chance auf eine Begnadigung, müsste sich seine Flügel wieder verdienen, würde aber wieder in den Himmel aufgenommen werde, wenn er aber Judy für immer aufgab. Sein Wandeln auf der Erde war eine Art Test. Stellte man fest, dass er weiterhin gegen die oberste Regel verstößt, droht ihm eine noch härtere Strafe, als der Verlust der Flügel und die Vertreibung aus dem Himmelreich. Wer als ohnehin schon gefallener Engel wieder dagegen verstößt, wird dazu verurteilt, für immer der Hölle zu dienen. Lucien wusste, das Judy in Gefahr wäre, wenn er sich nicht fernhielt, oder man erfährt, dass er sein wahres Ich preisgibt. Aber er konnte sie einfach nicht loslassen.
Vor Wut trat er eine Mülltonne um, die am Rand der Straße stand und scheppernd zu Boden fiel. Er musste ihr die Wahrheit sagen. Sofort machte er kehrt und ging zu Judys Haus.

Judy knallte die Haustür hinter sich zu. „Mom?" Sie war allein. Ihre Mutter hatte Nachtschicht, aber das fand sie weniger schlimm. Sie wollte jetzt allein sein. Sie schmiss sich auf ihr Bett und dachte über eben nach. ~Er ist so furchtbar! Was ist denn los mit mir? Ich kenne nicht mal seinen Namen und lasse ihn in mein Haus! Er könnte sonst wer sein!~
Judy vergrub ihr Gesicht in einem Kissen. Wenn sie doch wenigstens wüsste, warum sie sich trotz allem so sicher mit ihm fühlt. Aber wo kam er her? Sie war sich sicher, er würde sie verfolgen, aber etwas Böses würde sie ihm nicht zutrauen. Die Türklingel riss Judy aus ihren Gedanken.
~Wer soll das denn jetzt sein? Bei dem Wetter?~ Als sie die Tür öffnete, stockte ihr kurz der Atem. Vor ihr stand Lucien. Durchgeweicht, wie am Tag zuvor, aber diesmal mit einem Blick der Reue. Judy zog die Augenbraue nach oben und musterte ihn. „ Judy, ich..." begann er. „Meinst du nicht, du hast mich für heute genug gekränkt?" antwortete sie sauer. „Ich halte mich schon selbst für komplett bescheuert, weil ich einen Wildfremden in mein Haus gelassen habe und noch nicht mal seinen Namen kenne!" „Lucien.." antwortete er. Fragend blickte Judy ihn an. „Mein Name ist Lucien." Judy bemühte sich wirklich, sauer zu bleiben. Sie konnte ihren Blick nicht von ihm abwenden, obwohl sie ihm zu gerne die Tür vor der Nase zuschlagen würde. „Judy." gab sie trocken zurück.
~Weiß ich doch.~ „Freut mich." erwiderte er und reichte ihr die Hand. Jetzt erwischte sich Judy selbst dabei, sie musste kurz lächeln und war dabei, ihn doch etwas süß zu finden.
„Hör zu," begann sie, „Ich werde dir verzeihen. Aber im Gegenzug wirst du ab jetzt ehrlich zu mir sein. Immer, wenn ich dir eine Frage stelle, wirst du sie mir beantworten, ohne mir ins Gesicht zu lügen oder mir die Antwort zu verweigern. Ansonsten kann ich gerne auf deine Bekanntschaft verzichten." fuhr Judy fort und schaute Lucien ernst an, der immer noch tropfend in der Tür stand. „Abgemacht!" antwortete er ohne zu zögern. Dann endlich bat sie ihn herein. Eine Weile sagten sie einfach nichts, sondern lauschten einfach nur dem Wind und dem Regen, bis Judy aufstand und ihre Anlage anschaltete. Plötzlich wurde es still und Dunkelheit überflutete das Zimmer. „Na klasse. Der Strom ist weg!" stellte sie fest und ging aus dem Zimmer. Aus dem Flur rief sie Lucien zu : „Ich habe hier irgendwo Kerzen!" Er stand auf und half ihr beim Suchen. Im Dunkeln fiel ihm aber auf, dass ihn immer noch dieses schwache Leuchten umgab, was ihn schon bei ihrer ersten Begegnung fast verriet. „Ich hab welche!" rief Judy und kam mit einer Taschenlampe und einer Menge Kerzen zurück. Lucien betete, dass es ihr nicht auffallen würde. Schnell schnappte er sich eine Kerze und zündete sie an. Hoffentlich würde sie das Leuchten für das Licht der Kerze halten.
Er hatte Glück, Judy nahm es nicht wahr. Ihr Zimmer wurde in eine gemütliche Atmosphäre getaucht. „Judy..." begann Lucien jetzt zu sprechen. „Ja?" Sie sah ihn erwartungsvoll an. „Hättest du etwas dagegen, wenn ich heute hier bleiben würde? Ich weiß, es ist zu viel verlangt, nach all dem, was ich gesagt habe..." „Schon gut.." antwortet sie. „Meine Mutter ist eh nicht da und immerhin hatte ich dir ja schon mal angeboten, dass du hier bleiben kannst." Sie lächelte sanft. Es tat gut, sie wieder einmal so zu sehen. Er zog sein T-Shirt aus und legte es über die Heizung und machte es sich auf Judys Bett bequem und sah sie an. „Wo kommst du eigentlich her? Ich habe dich hier noch nie gesehen!" fragte Judy. Jetzt musste er an sein Versprechen denken. Aus dem Himmel, aber da wurde ich rausgeworfen, weil ich dich liebe.Er hatte keine Wahl, es war noch nicht der Zeitpunkt dafür. „Bin gerade hergezogen." sagte er schließlich. „Allein?" fragte Judy weiter. „ Ja allein. Aber irgendwie habe ich mir das einfacher vorgestellt." sagte er und lachte dabei. „Immerhin stehe ich ohne alles da, ohne Dach und ohne Job." „Du ziehst einfach irgendwo hin ohne vorbereitet zu sein?" sagte Judy, worauf er nur nickte und sie verschämt angrinste. Sie lachte laut los. „Oh Mann, ich habs hier mit einem echten Experten zu tun oder?" Jetzt lachten beide, bis ihnen die Tränen kamen. Noch eine Weile lagen sie auf Judys Bett und redeten einfach nur. Judy gefiel es, mit ihm allein zu sein. Ganz ohne Streit, einfach nur sie beide. Als sie merkte, das Lucien eine Weile nichts mehr gesagt hatte, setzte sie sich auf und merkte, dass er eingeschlafen war.
Jetzt konnte sie die beiden riesigen Narben aus der Nähe betrachten. Sie sahen aus, als wäre etwas aufgerissen worden. ~Wo zieht man sich denn sowas zu?~ Sanft strich sie mit dem Finger darüber. Lucien zuckte und sie zog ihre Hand schnell weg. Lucien schlief ruhig weiter. ~Puuuh...~
Auch Judy wurde langsam müde. Sie beschloss, sich auf ihre Couch zu legen, auf der sie eigentlich immer las. Sie wollte Lucien nicht wecken, es war wohl länger her, seit er in einem richtigen Bett lag.

Als Lucien am nächsten Tag aufwachte, fand er die schlafende Judy auf der Couch. Vorsichtig ging er auf sie zu und beobachtete, wie ruhig sie atmete. Sanft strich er ihr eine Strähne aus dem Gesicht. Er würde sich jeden Moment auf den Weg machen, aber er würde sie nicht einfach ohne ein Wort verlassen. Er schrieb ihr einen Zettel: „Liebe Judy,
du hast so friedlich geschlafen, ich wollte dich nicht wecken. Ich will nur, dass du weißt, dass ich jederzeit bereit bin, dir all deine Fragen zu beantworten. Ich bin nie wirklich weit entfernt von dir.
Bis bald. L." Lucien legte den Zettel auf den Tisch neben die Couch und küsste Judys Stirn. Dann schlich er sich davon.
Als sie schließlich eine Weile später aufwachte, schaute sie sich um. Lucien war verschwunden. Ihre Augen glitten durchs Zimmer und blieben an einer Notiz hängen. Die Notiz von ihm. Still las sie sich seine Worte immer und immer wieder durch. Dabei dachte sie an den Traum, den sie wieder von ihm hatte, an den Traum, in dem sich seine Berührungen so echt anfühlten.

FallenWhere stories live. Discover now