Possibilities- Was wäre wenn...

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Ich gehe an einer verspiegelten Fassade vorbei. Meine Gelenke schmerzen, ich komme nur noch langsam voran. Die Welt um mich herum scheint sich in einem anderen Tempo zu bewegen. So viel schneller.

Einen jungen Mann, der mich erst vor kurzem überholt hatte, konnte ich kaum noch in der Ferne erkennen. Ein junges Mädchen rannte an mir vorbei; sie stolperte fast als sie ihren Schuh verlor, sie machte aber nicht Halt. Ohne den verlorenen Schuh zu beachten rannte sie weiter.

Ich bleibe stehen, ich war zu erschöpft um weiter zu gehen. Ich musste erst einmal wieder zu Atem kommen. Ich blickte auf und sah mich in der verspiegelten Fassade.

Ich betrachtete mein Spiegelbild. Ich hatte mich verändert. Meine Haare hatten ihre ursprüngliche Farbe verloren. Es scheint als wäre ich kleiner geworden zu früher, mein Rücken war gebeugt.

Ich ging ein paar Schritte und beobachtete mich dabei in den Fenstern. Meine Bewegungen sind steif und langsam geworden.

Ich renne, bin vollkommen außer Atem. Ich darf auf keinen Fall zu spät kommen. Auch wenn meine Lungen brennen und ich meinen Schuh schon an der letzten Kreuzung verloren habe, renne ich weiter. Ich habe nur ein Ziel vor Augen: noch rechtzeitig zum Bahnhof zu kommen, um mich für meine gesagten Worte zu entschuldigen. Um ihn um Verzeihung zu bitten, ihn zu bitten zu bleiben, um zu versuchen ihn aufzuhalten, um ihn noch ein letztes Mal zu sehen.

Ich betrete den Bahnhof, stoße dabei den Koffer einer älteren Dame um, die mir hinterherruft, ich solle doch aufpassen wohin ich gehe. Ich schaffe es aber nur, eine Entschuldigung zu keuchen, ich bleibe nicht einmal stehen, ich drehe nur meinen Kopf während ich noch renne für einige Sekunden nach hinten. Ich musste noch rechtzeitig ankommen, Ich konnte meine Zeit nicht damit verschwenden, mich bei der älteren Dame aufrichtig zu entschuldigen. Ich hatte es einfach viel zu eilig.

Da, Gleis 3, ich biege nach links ab und sprinte mit meinen letzten Kraftreserven auf die Gleise zu und dort sehe ich ihn. Ich rufe seinen Namen. Er dreht sich überrascht zu mir um, aber er lächelt. Er hatte meine Stimme erkannt.

Ich falle ihm in die Arme und atme seit langer Zeit zum ersten Mal wieder tief durch.

Es wäre das letzte Mal, dass ich ihn gesehen hätte. Ein Abschied den man nicht bereut hätte. Eine Erinnerung, an die man gerne zurückdächte und sie mit einem Lächeln, zwar einem traurigen, seiner Familie erzählen würde.

Ich renne so schnell ich kann zum Bahnhof, um mich von ihm zu verabschieden bevor seine Reise beginnt. Aber an einer Kreuzung verliere ich einen Schuh, ich halte an um ihn anzuziehen und renne danach weiter. Am Bahnhof angekommen, stoße ich den Koffer einer älteren Dame um.

Ich bleibe stehen, um mich bei ihr zu entschuldigen. Sie hält mir eine Standpauke über den fehlenden Respekt von Jugendlichen gegenüber der älteren Generation. Ich höre ihr nur mit halbem Ohr zu.

Als ich mich endlich von ihr losreisen kann und zu Gleis 3 eile, verlässt der Zug gerade den Bahnhof.

Ich glaube seine Gestalt hinter einem der Fenster wahrzunehmen und beginne wie von Sinnen zu winken und zu springen. Er sieht mich nicht.

Ich war zu spät.

Ich fiel auf die Knie, barg mein Gesicht in meinen Händen. Ich schluchzte, Tränen liefen mir über die Wangen aber ich beachtete sie kaum.

Ich wusste nicht wie lange ich dort kniete, irgendwann klopfte mir jemand auf die Schulter.

Die ältere Dame von zuvor. Sie half mir auf und sagte, dass es nichts bringen würde hier eine solche Szene zu veranstalten. Ich nickte und sah ihr dann zum ersten Mal wirklich ins Gesicht. Zuerst viel mir ihre Brille auf. Ich sah mein verweintes Gesicht in ihren Gläsern. Ich hatte gerötete Augen und mein Gesicht war von roten Flecken übersäht.

Ich blinzelte die letzten Tränen aus meinen Augen, um wieder klar sehen zu können. Ich wollte mich noch einmal in den Gläsern betrachten um mein Äußeres wieder einigermaßen akzeptabel wirken zu lassen.

Aber ich sah nicht mich selbst in den Gläsern. Ich sah eine alte Frau mit gebeugter Haltung, vom Leben gezeichnet.

Ihr Blick sagte mir, sie hatte schon Vieles gesehen. Ihre Augen blickten traurig, als wollten sie mir etwas sagen. Als wollten sie mir eine schlechte Nachricht mitteilen.

Plötzlich hörte ich eine Durchsage, der Bahnhof wird abgesperrt. Der Zug, der vor kurzem Gleis 3 verlassen hatte, war von den Schienen abgekommen und stand nun in Flammen.

Chaos brach aus, ich hörte überall Menschen schreien, beten und schluchzen. Ich registrierte nicht was eigentlich passiert war bis ich die Augen der alten Frau in den Gläsern sah.

Er war gestorben.

Ich bin wieder so weit zu Atem gekommen, dass ich mich von der Fassade abwende und meinen Weg fortsetzen möchte. Ich mache aber Halt und drehe mich noch einmal um als ich das Weinen eines Mädchens höre.

Sie saß auf einer Bank und barg ihr Gesicht in ihren Händen. Ich ging zu ihr und fragte sie was denn passiert sei. Ich bemerkte, dass sie zögerte mit mir zu sprechen bis sie mir in die Augen blickte. Sie schien etwas darin zu sehen, dass ihr den Mut gab zu sprechen.

Sie sagte, sie hätte sich mit ihrer Schwester gestritten, weil diese unbedingt mit ihren Freundinnen am Abend zu einer Feier gehen wollte. Ich hörte ihr zu und sagte schließlich, dass es das Beste wäre, so bald als möglich mit ihr zu sprechen, bevor es zu spät war. Denn die quälende Frage wie das Leben verlaufen wäre, hätte man sich anders entschieden, kann einen ein Leben lang verfolgen.

Sie stand auf und bedankte sich bei mir und eilte davon. Ich lächelte und machte mich selbst auf den Weg zu meinem Ziel.

Als ich es erreicht hatte, holte ich die Blumen aus meiner Tasche, legte sie auf sein Grab und zündete eine Kerze an.

Es war sein 50. Todestag.


A/N: Hoffentlich seid ihr nicht zu sehr verwirrt. -Belle

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⏰ Last updated: Jul 22, 2017 ⏰

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The Lost Part Of My SoulWhere stories live. Discover now