Kapitel 1

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»Autsch!«, fluchte ich und starrte den kleinen Blutstropfen an, der aus meinem linken Zeigefinger sickerte. Diese verdammte Cornflakes-Packung wollte es mir heute einfach nicht leicht machen. Ich lief auf die weiße Küchenzeile zu und kramte in einer Schublade nach einem Stück Pflaster. Meine Mutter hielt es leider nicht so gut mit der Ordnung und ich fand die zerknitterte Verpackung erst unter einer Dose mit Teebeuteln.

»Was machst du denn da?«, fragte mich mein Bruder Yorick und deutete auf meine Verletzung. Ich schnitt ihm eine Grimasse und versuchte so den Schmerz zu unterdrücken, der sich mittlerweile in meinem gesamten Finger ausgebreitet hatte.

»Ich hab' mir nur in den Finger geschnitten.«

»Oh! Soll ich einen Notarzt holen?«, erwiderte er scherzhaft und ich schlug mit aller Kraft die Schublade zu. Schnell verarztete ich mir die Wunde selbst und kam doch noch zu dem Genuss eines morgendlichen Frühstücks. Mein Bruder hatte inzwischen das Interesse an mir verloren und sich ganz seiner Comic-Zeichnerei zugewandt. Ein Hobby, welches er schon sein ganzes Leben verfolgte. Selbst während des Unterrichts an der South-Wyalong-Highschool legte er den Stift nicht beiseite und hatte sich bereits das ein oder andere Mal eine Stunde Nachsitzen aufgebrummt. Er war mit seinen fünfzehn Jahren drei Jahre jünger als ich. Äußerlich ähnelten wir uns kaum. Yorick hatte braune Haare und braune Augen. Ich hingegen hatte lange, rote Haare und graue Augen. Wir wohnten zusammen mit unserer Mutter in einem kleinen Haus in South Wyalong. Einem kleinen von der Außenwelt fast abgeschnittenen Ort inmitten des australischen Bundesstaates New South Wales. Wenigstens das Wetter spielte die meiste Zeit des Jahres mit. Kaum Regen, milde Winter und viel Sonnenschein. Mit meinen roten Haaren brachten mir die zahlreichen Sonnenstunden jedoch nicht viel. Im Gegensatz zu meinem Bruder, der fast das ganze Jahr über wie ein gebratenes Hühnchen herumlief. Und das obwohl er sein Zimmer so gut wie nie verließ. Er legte nicht so wie ich viel Wert auf Kontakte zur Außenwelt. 

»Morgen ihr beiden!« Meine Mutter hatte die Küche betreten und schob zwei Hälften Weißbrot in den Toaster. Ihre graublonden Haare hatte sie zu einem einfachen Knoten gedreht, aus dem sich die Hälfte bereits wieder gelöst hatte. In Punkto Styling ähnelte sie mehr meinem Bruder, als einer erwachsenen Frau. Er trug karierte Hemden oder einfache T-Shirts und sie karierte Blusen. Ich war das einzige Familienmitglied, das einen Sinn für Mode hatte. Daher betrachtete ich mich auch kritisch im Spiegel, der direkt neben der Eingangstür unseres Flures an der Wand hing. Mir blickten eine dünne spitze Nase, gerade weiße Zähne und hervorstehende Wangenknochen entgegen. Mit meinem Aussehen hatte ich es eigentlich ganz gut getroffen. Das gelbe Sommerkleid von Zara ließ meinen Teint dazu noch um ein paar Nuancen heller strahlen.

Zufrieden verließ ich das kleine Holzhaus, schnappte mir mein Fahrrad und machte mich immer den langen Sandwegen folgend auf zur High-School. Dort besuchte ich die zwölfte Klasse und wollte nach meinem Abschluss in die Hotelbranche einsteigen. Mein Traum war es an der Ostküste zu arbeiten. Sydney klang ganz verlockend und versprach wesentlich mehr Abwechslung, als sie hier vorzufinden war. Kurz bevor der schlichte Flachbau in Sicht kam, trat ich noch einmal ordentlich in die Pedalen, um den steilen Anstieg gekonnt zu bewältigen. Etwas aus der Puste geraten, verwahrte ich meinen Drahtesel sicher an einem Zaun. Ein Blick auf die vielen anderen Zweiräder sagte mir, dass ich mal wieder ziemlich spät dran war. Ich eilte an den Schülerscharen vorbei, die sich auf dem kleinen Platz vor dem Eingang tummelten. An den Spinds wartete bereits meine beste Freundin Gillian McDude auf mich.

»Da bist du ja endlich, Candice.«

»Ich hab versucht heute etwas früher aufzubrechen«, brachte ich immer noch sichtlich außer Atem zu Stande. Doch Gillian ließ mir keine Zeit für eine lange Verschnaufpause.

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