8. Kapitel: Eine Städtetour mit einem Long-Drachen I

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Ungeduldig stand Molli am Ufer des Huangpu-Flusses im neuen Stadtteil Pudong. Direkt über ihr erhob sie das Wahrzeichen Shanghais, die Oriental Pearl Tower, der berühmte Fernsehturm. Sie hatte diesen Ort gewählt, damit Bailin sie schnell finden konnte. Als sie am Abend davor durch die magische Haarspange telefonierten, bestand Molli darauf, in der Nähe des Fernsehturms zu warten, da Bailin auf die Frage „Wo sollen wir uns treffen?" keine Antwort wusste.

„Kennst du die Oriental Pearl Tower?", hatte sie gefragt.

„Was ist das?", kam als Antwort.

„Ein Fernsehturm."

„Was ist ein Fernsehturm?"

„Das ist ein hoher Turm, der zwei riesige, violette Kugeln trägt, eins oben, eins unten."

„Ach doch! Den kenne ich. Ich spiele manchmal an der Turmspitze herum, wenn ich Shanghai beregne."

„Jetzt wissen wir alle, warum die Fernsehen von Shanghai bei Regen einen so schlechten Empfang haben."

„Wie bitte?"

„Ach egal. Komme morgen um elf einfach ans Ufer von Huangpu, direkt am Fernsehturm."

„Erteilst du mir gerade ein Befehl, Ja-s-min?" Molli hatte kurz gezögert, da seine Stimme einen drohenden Unterton annahm.

„Ja", antwortete sie trotzig. Sie hörte ein leises Lachen.

„Na schön. Da ich mich mit der Menschenwelt nicht auskenne, wird mir wohl nichts anderes übrig bleiben."

Bei dieser Erinnerung musste Molli lächeln. Wer hätte gedacht, dass Bailin auch humorvoll sein konnte? Sie hoffte, er würde nicht schon wieder in seltsame Kleidung auftauchen.

Molli fiel auf, dass sie schon lange nicht mehr an Marc gedacht hatte. Wie denn auch? Die Geschehnisse ließen da keine Zeit zu. Der Schmerz war verdrängt und das war Molli nur recht so. Als Bailin am Tag zuvor ihre Gedanken gelesen hatte, hatte sie sich ertappt gefühlt. Sie verglich tatsächlich die beiden Jungs miteinander. Warum eigentlich?

Bailin war stolz, überheblich, redet nur soviel, wie es notwendig war, er konnte einem Angst einjagen, und er mochte die Menschen nicht. Aber andererseits hatte er Molli sofort ins Vertrauen gezogen und schien sauer, als Molli immer noch Angst vor ihm hatte.

Marc war nicht so wie er. Er redete gerne, fand überall Freunde und konnte alle zum Lachen bringen.

Er sucht meine Freundschaft, dachte Molli. Aber warum? Ich habe noch nicht mal den Eindruck, dass er mich mag. Aber habe ich ihm denn das Gefühl gegeben, dass ich ihn mochte? Ich mag ihn tatsächlich. Und er sieht verdammt gut aus, dafür, dass er kein Mensch ist.

Jasmin Weiß, rief Molli sich zur Vernunft, was hat das bitteschön mit seinem Aussehen zu tun? Er ist kein Mensch, merk dir das!

In dem Moment brach eine Gestalt durch das Wasser. Wie Jesus ging sie leichtfüßig auf der Wasseroberfläche auf das Ufer zu. Nur dass Jesus keinen Anzug trug, dessen war sich Molli sicher. Die Passanten schauten überall hin, nur nicht auf das, was wirklich geschah. 

                                                                 *                      *                      * 

Wieder hatte Bailin die Krabben zu Rate gezogen. Er konnte niemandem anderes fragen, ohne zu verraten, dass er ans Land wollte. Die Krabben kannten sich mit den Menschen aus und als Dank dafür, dass Bailin sie für einen Monat in Ruhe ließ – normalerweise fraß er sie täglich – bekam er ein gezeichnetes Bild von einem menschlichen Kleidungsstück. Ein weißes Hemd, darüber eine schwarze Jacke, sowie schwarze Hose und Lederschuhe. So würden die Menschen überirdisch rumlaufen, hatten sie erzählt. Hoffentlich hatten sie Recht. Ja-s-min hatte ihn bereits wegen den grünen Badelatschen ausgelacht.

Als er vor dem Spiegel stand und den Anzug anzog – ein kinderleichter Zauber – wusste er nicht recht, was er davon halten sollte. Diese moderne Kleidung war sehr ungewohnt, außerdem musste er dafür kurze Haare haben. Stand es ihm überhaupt? Würde Ja-s-min das gefallen?

Ich muss niemandem gefallen, verdammt. Ich muss mich unter den Menschen tauchen können, ohne aufzufallen, dachte Bailin.

Zum Schwimmen verwandelte er sich natürlich in Drachenform. Während er nach dem Eingang vom Meer zum Huangpu-Fluss suchte, indem er hin- und herschwamm und die Strömungen testete, wunderte er sich darüber, wie sehr sein Interesse doch für die Menschen gewachsen ist. Wenn er sich dafür früher interessiert hätte, hätte er in den Human-Außendienst treten können. Menschen vor Naturkatastrophen retten oder sich mit den wenigen Menschen, die von der Existenz der Long-Drachen wussten, zu treffen. Stattdessen entschied er sich traditioneller Weise für den Wetterdienst. Zum Notfalldienst musste er ein Mal in der Woche. Beziehungsweise war das der Tag gewesen, an dem er Ja-s-min kennengelernt hatte.

Bailin empfand selbst auch immer mehr Interesse an ihrer Person. Was für einen Mut musste man haben, um direkt am zweiten Tag auf einem Drachenrücken zu reiten und in die Residenz zu reisen? Gleichzeitig fürchtete sie sich vor ihm. Mädchen sind alle so kompliziert, egal ob Drachen oder Menschen. Andererseits...er war es gewohnt, den Meeresbewohnern Respekt einzuflößen. Schließlich war er der älteste Sohn seines Vaters. Vielleicht hatte Ja-s-min Recht. Er sollte in ihrer Gegenwart nicht immer den großen Prinzen spielen.

Mit einer Neugier, die er ewig nicht mehr gespürt hatte, brach er durch das verdreckte Wasser und führte gleichzeitig zwei kleine Zauber durch, damit die Menschen nicht auf ihn aufmerksam wurden und damit er auf dem Wasser laufen konnte. In der Ferne sah er Ja-s-min bereits. Eigentlich wollte er vor ihren Füßen erst auftauchen und sie erschrecken, aber er dachte, wer sich so schick gemacht hatte, der verdient es, von Weitem schon gesehen zu werden. 

Die Long-DrachenWhere stories live. Discover now