4.Kapitel: Auf dem Land

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Molli brauchte eine Weile, bis ihr klar wurde, mit wem sie gerade gesprochen hatte.

Ein richtiger Long-Drache. Die aus den alten Erzählungen. Die aus den Filmen.

Es gibt sie wirklich.

Warum auch nicht? Forscher haben sogar mal Skelette von Meerjungfrauen gefunden. Warum also keine Drachen? Außerdem ist an Legenden doch immer was Wahres dran.

Sie sollte sich beeilen, nach Hause zu kommen. Mit ihren Eltern hatte sie einen Treffpunkt ausgemacht. Ihre Mutter war total dagegen gewesen, sie allein zu einem so abgelegten Strand laufen zu lassen, wer weiß, wer da rumläuft (Long-Drachen!, dachte Molli vergnügt). Aber ihr Vater wusste, dass sie ein bisschen Ruhe brauchte, außerdem wurde sie schon bald achtzehn!

Molli musste eine gute Weile laufen, bis sie die ersten Menschen antraf. Kein Wunder, dass Bailin dort unbekümmert erschienen war. Bailin. Was für ein passender Name für ihn! Die Rolle des weißen Long-Drachen gab es in einigen Filmen und auch Computerspielen, aber die Realität sieht natürlich ganz anders aus.

Molli fand ihre Eltern an einem der zahlreichen Stände, die Muscheln verkauften. Ihr Vater schlürfte gerade einen aus und winkte ihr zu. Ihre Mutter machte ein eher sorgenvolleres Gesicht. „Da bist du ja, mein Schatz!“ Sie ließ sich einen Kuss geben. „Sag deinem Vater, dass diese kleinen Stände zu unhygienisch sind. Er soll nicht so viele Muscheln essen!“ Ihr Vater zog die Augenbrauen hoch. „Na und? Die schmutzigen Sachen schmecken am besten! So ist es doch immer in China.“ Mollis Familie sprach stets in einem Mix aus Deutsch und Chinesisch, sie waren es alle gewohnt.

Molli war wirklich versucht gewesen, sie von dem Drachen zu erzählen, doch sie kniff sich ins Bein und erinnerte sich an Bailins Worte.

Familie Weiß drängte sich an Menschenmassen vorbei, um zur Straße zu gelangen, die sie folgten, bis sie zu einer U-Bahnstation kamen. Neun Stationen später stiegen sie um und fuhren weitere sieben, stiegen ein letztes Mal um, fuhren drei, dann stiegen sie aus.

Es war wirklich eine Quälerei, mit der U-Bahn zu fahren, aber Autofahren war nicht besser. Hier hatte man wenigstens kein Stau.

Molli blickte zu den Hochhäusern hoch, die den Himmel fast zu durchbohren schienen. Meistens Bürogebäude. Wohngebäuden waren zwar auch hoch, aber längst nicht so hoch wie die Wolkenkratzer. Sie kannte die neue Siedlung, in der sie wohnten, nur konnte sie sich noch nicht merken, welches Hochhaus. Alle waren hellgelb angestrichen und hatten achtzehn Stockwerke. Ach ja, genau. Das zweite von rechts. Mollis Mutter konnte ihren Vater überzeugen, die Wohnung des vierten Stocks zu kaufen, damit man im Notfall auch die Treppe nehmen konnte.

Ob und wie teuer Shanghais Wohnungen waren, wusste Molli nicht genau. Aber sie wusste, dass heutzutage Wohnungen und Autos das wichtigste waren. Ein Mann ohne eigene Wohnung oder ohne eigenes Auto würde nur schwer eine Frau finden, die ihn heiraten will. Zu viele Menschen, zu viel Wettbewerb. Da helfen nur noch reiche Eltern, die den Kindern die eigene Wohnung finanzieren. Damit Molli später in China irgendwo noch wohnen kann, haben ihre Eltern die Wohnung gekauft. Kostete natürlich eine Stange Geld, zum Glück verdiente ihr Vater gut.

Die Wohnung bestand aus einem großen Raum, in dem sich Wohnzimmer, Esszimmer und Küche befanden. Die Küche wurde durch eine bunt gestrichene Pinnwand abgetrennt. An die Innenseite waren Rezeptideen und Einkaufszettel befestigt, auf der anderen Seite wichtige Sachen, die zu erledigen waren. Andere Türen führten ins Bad und in zwei Schlafzimmern. Die Fenster im Wohnzimmer reichten bis zum Boden und zeigten eine tolle Sicht auf die größte Hafenstadt Chinas.

Molli schlüpfte in ihr Zimmer hinein, nahm ihr Laptop und machte sich damit auf dem Bett gemütlich. Sie hatte noch gute zweiundzwanzig Stunden Zeit, wollte bis dahin so viel wie möglich über Long-Drachen herausfinden. So gab sie bei Baidu „Long“ ein und machte sich eifrig Notizen.

Die Long-DrachenWhere stories live. Discover now