Crystal Die Wahrheit

11 0 0
                                    

Ich sitze wie jedes Jahr pünktlich zur Parade mit meinen Eltern vor dem Fernseher. Dasselbe passiert bei der Ernte, den Interviews, der Punktevergabe und den Spielen selbst. Ich kann mich nicht drücken, denn sonst würden sie mich nur schräg ansehen und wieder mal bemerken, wie anders ich bin. Ich bin wohl so ziemlich die einzige Kapitolbewohnerin, die die Spiele hasst. Ehrlich, ich verstehe nicht, was daran so toll sein soll. Kinder, die sich gegenseitig ermorden, nur damit uns nicht langweilig wird? Ich glaube aber, dass noch etwas anderes dahinter steckt. Doch mit wem kann ich reden? Alle hier würden mich für verrückt erklären und mich dann vollkommen aus der Gesellschaft ausschließen. Für jemanden wie mich gibt es hier keinen Platz. Ich fühle mich fremd hier, als würde ich nicht hierher gehören. Verrückt, ich weiß. Ich bin hier geboren und aufgewachsen, genau wie meine Eltern. Ich wünschte, ich hätte Geschwister, vorzugsweise eine Schwester. Ich hasse es, Einzelkind zu sein. Mit einer Schwester könnte ich reden. Warum ich die Spiele hasse, warum ich nicht so wie die anderen irgendwelche Veränderungen an mir durchführen lassen will, warum ich die meisten hier einfach nur noch verachte. Ich seufze lautlos auf. Warum denke ich überhaupt über so etwas nach? Ich habe keine Schwester. Ich widme mich widerwillig dem Fernsehgerät. So viele Tribute, junge und ältere, alle bis auf einen dem Tode geweiht. Widerlich. Die beiden aus Distrikt eins wirken wie so oft sogar so, als wären sie stolz darauf, sterben zu dürfen. Natürlich denken sie, sie könnten gewinnen. Aber ich glaube nicht, dass sie es wirklich tun werden. Das Mädchen winkt grinsend und ich verdrehe genervt die Augen, während meine Eltern begeisterte Laute von sich geben. Ist es nicht schon schlimm genug, dass so viele sterben werden, müssen sie sich denn auch noch so darüber freuen? Jetzt kommen die Tribute aus dem nächsten Distrikt ins Bild. Distrikt zwei. Jedes Mal, wenn ich diese beiden sehe, überkommt mich ein seltsames Gefühl, so als wäre ich dem Mädchen schon mal begegnet. Ruby Shine. So heißt sie. Das merkwürdige Gefühlt wird noch dadurch verstärkt, dass ich ebenfalls Shine heiße. Crystal Shine. Aber es gibt in den reicheren Distrikten einige Familien mit entfernten Verwandten im Kapitol. Nichts Besonderes also. Trotzdem geht sie mir nicht mehr aus dem Kopf. „Crystal, sieh nur.", zwitschert meine Mutter mit ihrer üblichen gekünstelten Stimme. Ein Seufzen unterdrückend konzentriere ich mich wieder auf den Bildschirm. Gerade sieht man eine Nahaufnahme von Rubys Gesicht. Ich runzle die Stirn. Was ist daran so besonders? Ich sehe meine Mutter verwirrt an. Sie wirft mir einen bösen Blick zu. „Sieh nur. Da ist deine Schwester." WAS? Ich starre meine Mutter fassungslos an. Mein Blick wandert zu meinem Vater, aber dessen Blick scheint am Fernseher festzukleben. „Meine was?", sage ich etwas zu laut. Meine Mutter wirft mir einen missbilligenden Blick zu. „Schrei doch nicht so. Ich sagte, dass sie deine Schwester ist." Ich verstehe es immer noch nicht. „Wie kann sie meine Schwester sein?", frage ich, meine Stimme ist immer noch viel zu laut. Meine Mutter seufzt auf, bringt aber immer noch nicht den angebrachten Ernst auf. „Du bist nicht von hier. Deine leiblichen Eltern kommen aus Distrikt 2. Von da hast du wahrscheinlich auch deine schrecklichen, schrecklichen Manieren und diesen furchtbaren Dickschädel." Ich starre sie weiterhin an. Die Fassungslosigkeit wird von Wut abgelöst. Sie sagen mir das so? Einfach so ins Gesicht nach 16 Jahren? Für mich ergibt jetzt einiges einen Sinn. Ich gehöre wirklich nicht hierher. „Was ist mit meinen richtigen Eltern? Warum bin ich hier? Wo sind sie?", schreie ich wütend. Mein Vater, oder sollte ich besser sagen, der Lügner, der sich als mein Vater ausgegeben hat, meldet sich erstmals auch zu Wort. „Sehr unterhaltsame Spiele, die zweiten. Einer von den beiden hätte es sogar schaffen können. Aber so hat jemand anderer gewonnen. Tja, so sind die Spiele. So eine Schande. Da hätten wir doch glatt einen Sieger in der Familie haben können." Dann wendet er sich wieder dem Fernseher zu. Ich springe auf, zittere vor Wut, doch sie nehmen keine Notiz von mir. Es ist als wäre ich Luft. Luft, die vor Wut kocht und kurz vor dem Explodieren steht. Meine echten Eltern sind tot. Gestorben in den Spielen, die sie hier so verehren. Meine Schwester könnte in denselben Spielen sterben. Ich hasse sie. Ich hasse sie alle. Ich stürme aus dem Raum, egal wohin, alles ist besser als das hier. Ich stehe kurz in meinem Zimmer, dann laufe ich aus dem Haus. In meinen Augen brennen Tränen, ich laufe beinahe blind und doch weiß ich, wohin mich meine Beine tragen. Zu der einzigen Person, die mich hier auch nur ansatzweise versteht. Es ist nicht ganz richtig, dass ich die einzige bin, die die Spiele verabscheut. Es gibt noch jemand anderen. Er ist ein Freund von mir, auch wenn er einige Jahre älter ist. Er hat in diesem Irrenhaus von Stadt sogar noch einen ziemlich normalen Namen abbekommen. Ich bleibe an dem bunten, hochmodernen Haus stehen, an dessen Vordertür ein Schild angebracht ist. Darauf steht Heavensbee. Ich springe beinahe die Stufen hoch und klopfe heftig an die Türe. Als niemand aufmacht, beginne ich auch noch zu rufen. „Nathaniel. Nate, mach auf.", schreie ich. Ich höre hektische Schritte auf der Treppe und dann endlich öffnet sich die Türe. „Crys? Was schreist du denn so?", fragt Nate erstaunt. Ich blinzle schnell einige Tränen weg. Er betrachtet mich nachdenklich. „Was haben deine Eltern gemacht?", fragt er ruhig. Ich bin nicht das erste Mal nach einem Streit hier. Er tritt beiseite und lässt mich rein. „Sie sind nicht meine Eltern.", murmle ich. Ein verwirrter Ausdruck tritt in seine braunen Augen und seine hellbraunen Locken fallen ihm in die Stirn. „Wie meinst du das?", fragt er verdattert. Ich lasse mich seufzend auf einen Stuhl fallen, Nate setzt sich direkt neben mich. „Sie haben mich die ganze Zeit angelogen. Ich bin nicht ihre Tochter, ich bin auch gar nicht von hier. Ich komme aus Distrikt 2. Und ich brauche deine Hilfe." Er scheint von den Neuigkeiten bei weitem nicht so schockiert wie ich. „Wie kann ich helfen?", ist alles, was er dazu sagt. Ich lächle ihn dankbar an. „Hilf mir, etwas über meine richtige Familie rauszufinden. Ich weiß, dass ich eine Schwester habe und ich weiß, wie wir die Namen meiner leiblichen Eltern rausfinden können." Nathaniel nickt. „Wie machen wir das?", erwidert er. Mein Blick schweift zu einem Regal neben dem Fernseher. Dort stehen feinsäuberlich sortiert die Aufnahmen sämtlicher siebzehn Hungerspiele. Sie sind von Nates Eltern, sie schenken ihm jedes Jahr eine zum Geburtstag. Es interessiert sie nämlich nicht, was er haben will, sie wollen nur, dass er endlich seine Einstellung gegenüber den Spielen ändert. Das schaffen sie aber glücklicherweise nicht. Ich seufze traurig. „Ganz einfach. Wir müssen nur herausfinden, wer in den zweiten Hungerspielen die Tribute für Distrikt zwei waren. Dann haben wir ihre Namen." Jetzt habe ich Nate wirklich geschockt. Er starrt mich einige Sekunden nur wortlos an, dann räuspert er sich. „Das tut mir wirklich leid, Crys." Ich winke ab. Aber insgeheim bin froh, weil ich weiß, dass es hier wenigstens eine Person gibt, die so etwas auch ernst meint. „Ich habe sie ja nicht gekannt. Wie soll ich sie da vermissen? Ich denke ja, dass sie meine Schwester viel mehr vermisst." Nate wirft mir einen neugierigen Blick zu. „Du hast vorher schon eine Schwester erwähnt. Weißt du, wie sie heißt?" Ich gehe zum Fernseher und schalte ihn ein, was mir einen verwirrten Blick seitens Nathaniel einbringt. Die Parade läuft noch, gerade werden praktischerweise wieder Ruby und der andere aus Distrikt zwei eingeblendet. Ich deute auf den Bildschirm. „Das ist meine Schwester. Ruby Shine." Nates Augen werden groß. „Ich glaube, ich weiß etwas über deine Eltern. Ich weiß nämlich etwas über ihre Eltern. Ihre Namen waren Kyle und Saphir Shine. Saphir hatte auch noch eine Schwester, die aber inzwischen auch tot ist. Aber ich denke, ich habe da etwas, dass dich interessieren könnte." Mit diesen Worten steht er auf und bedeutet mir, ihm zu folgen. Warum weiß er das so genau? Aber naja immerhin habe ich jetzt ihre Namen. Ich folge Nate auf den Dachboden, wo er eine verstaubte Schachtel öffnet, auf der in verblasster Schrift etwas steht, dass ich aber nicht mehr entziffern kann. Er kramt eine Weile darin herum, ehe er einen Briefumschlag herauszieht. Dann hält er ihn mir hin. Ich nehme ihn entgegen und betrachte ihn eine Weile. Ich habe keine Ahnung, was Nate damit bezweckt. Auf dem Umschlag steht ein Name geschrieben. Jade Shine. Ich werfe ihm einen verwirren Blick zu. „Was soll ich damit?", frage ich ratlos. Er schiebt mich wieder nach unten. „Du sollst ihn lesen. Der ist für dich. Saphir und Kyle Shine haben vor den Spielen Briefe an ihre zwei Töchter geschrieben, aber dann dachten sie, dass eine der beiden gestorben ist und haben den ersten im Trainingscenter liegen lassen. Mein Vater, der damals Spielemacher war, hat ihn hier aufgehoben, du weißt ja, dass er sich von nichts trennen kann, was die Spiele angeht. Und da du ja anscheinend diese zweite Tochter bist und nicht tot, ist das der Brief, der an dich gerichtet ist. An dich als Jade Shine, nicht als Crystal." Ich starre Nate einen Moment sprachlos an, bis ich meinen Blick wieder auf den Briefumschlag lenke. Jade Shine. Das ist eigentlich mein Name, oder er sollte es sein, bis die Spiele alles kaputt gemacht haben. Vorsichtig drehe ich den Umschlag um und öffne ihn. Es ist mehr darin als nur ein Brief. Trotzdem ziehe ich das Blatt Papier als erstes hervor. Ich will wissen, was sie geschrieben haben.

Jade

Ich wünschte, es wäre anders gekommen. Wir wollten für dich und Ruby da sein, doch die Spiele machen uns das unmöglich. Die Chance, dass ich überlebe, ist verschwindend gering. Ich kann nicht ohne deinen Vater leben. Ich denke, dass es ihm genauso geht. Ich hasse mich dafür, dass ich euch ohne Eltern aufwachsen lasse, doch Snow lässt mir keine Wahl. Vergiss nicht, dass du nicht alleine bist. Du hast deine Schwester. Ihr müsst zusammenhalten. Lasst euch durch nichts trennen. Und versprich mir, dass du dich niemals freiwillig für die Spiele meldest. Das wäre für mich das Schrecklichste, was einer von euch tun könnte. Doch selbst dann würde ich dich noch lieben, genau wie jetzt und immer. Es tut mir so leid, kleine Jade.

In Liebe

Deine Mutter, Saphir Shine

Es ist nur ein kurzer Brief, aber ich weiß, dass ich ihn nie mehr aus der Hand geben werde. Ich falte den Brief wieder zusammen und stecke ihn in meine Jackentasche. Dann sehe ich mir den restlichen Inhalt des Umschlags durch. Zwei Fotos, das müssen wohl die beiden sein. Und eine schlichte silberfarbene Kette mit einem Anhänger, der aus einem hellgrünen Stein besteht, der wiederum in einer verschlungenen ebenfalls silbernen Fassung steckt. Ich finde sie wunderschön. Und deshalb lege ich sie auch sofort um. Dann drehe ich mich wieder zu Nate und fixiere ihn mit einem entschlossenen Ausdruck in den Augen. „Du musst mir einen Gefallen tun." Er lächelt mich an. „Was soll ich machen?" Insgeheim denke ich mir, dass er nicht immer so schnell zustimmen sollte, wenn ihn jemand um einen Gefallen bittet, aber da ich ihn ja gerade selber gefragt habe, verwerfe ich diesen Gedanken schnell wieder. „Du musst mir helfen, Ruby aus der Arena zu bekommen. Du musst sie sponsern. Ich weiß, dass du Geld hast. Ich würde es ja selber machen, wenn ich könnte. Aber ich habe kein Geld und ich bin auch noch nicht alt genug. Und falls sie gewinnt, musst du für mich auf der Siegertour mit ihr reden. Bitte, Nate. Ich will meine Schwester kennenlernen können." Ich werfe ihm einen flehenden Blick zu und verziehe die Lippen zu einem Schmollmund. Nate verdreht nur grinsend die Augen. „Du kannst wieder mit dem Theater aufhören Crys. Ich mache es ja. Es bedeutet dir viel und deswegen werde ich dir helfen. Du bist meine beste Freundin. Aber bitte erzähl Nevaeh nichts davon. Sie soll nicht mit hineingezogen werden, falls jemand was über unsere Einstellung herausfindet." Nevaeh ist Nates Freundin und kein so großer Spielegegner wie wir. Sie mag sie nicht sonderlich, hat aber auch noch nie ein Wort dagegen gesagt. Ich nicke und halte ihm meine Hand hin. „Abgemacht. Du hilfst mir und ich verrate niemandem ein Wort. Nicht mal Nevaeh." Nate ergreift meine Hand und grinst mich an. „Das wird schon, Crys. Wenn deine Schwester so dickköpfig ist wie du, kann sie gar nicht anders als gewinnen." Ich grinse zurück. Ich hoffe, er hat Recht. Aber egal wie es ausgeht. Wenigstens kenne ich jetzt die Wahrheit. Die Wahrheit über mich selbst. 

 

Hoppla! Dieses Bild entspricht nicht unseren inhaltlichen Richtlinien. Um mit dem Veröffentlichen fortfahren zu können, entferne es bitte oder lade ein anderes Bild hoch.


Ruby Shine KurzgeschichtenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt