Der Gefangene

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Dunkelheit umfing sie. Ein Mantel aus tiefstem Schwarz, der sich schwer wie Blei über das Herz legte. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen, ungewiss, wo sie hintrat. Ungewiss, wo ihr Weg endete.

„Hilf mir", hallte es in ihren Ohren wieder, „gutes Kind, bitte komm und rette mich". Diese Worte hatten sie in diese entlegene Höhle gelockt, deren Öffnung sich wie ein riesiges, schwarzes Maul aus dem Fels hervor hob.

„Hallo?", rief das Mädchen in die Finsternis hinein, „ist dort jemand?" vorsichtig schritt sie voran, die blauen Augen geweitet um etwas in dieser absoluten Schwärze zu erkennen. Vergeblich. Spinnenweben kitzelten ihre Nase und sie strich sie bei Seite. Schon hatte sie das Gefühl, dass es auf ihrer Haut krabbelte. Sie schüttelte sich, fuhr sich über die nackten Arme. Ein leichter Geruch von Schwefel hing hier in der Luft. Sie tat noch einen wagemutigen Schritt in das vermeintliche Nichts hinein und spürte etwas Weiches unter ihrer Sohle, unter der plötzlich ein Leuchten hervor kam. Nur ein schwacher Schimmer, wie vergehende Glut. Das Mädchen hob ihren Fuß an und zum Vorschein kam eine moosartige Pflanze, die bläulich glimmte und die lauernden Schatten ein wenig vertrieb. Sie atmete hörbar aus. Mit jedem weiteren Schritt, den sie ging, fingen neue Pflanzen an zu glühen und wiesen ihr so den Weg durch diese Höhle, die sich bald schon als Labyrinth aus Stalagmiten und Stalaktiten, aus Fels und Gestein entpuppte.

Das Mädchen wusste nicht, wie lange sie schon in dieser Höhle herumirrte, als es langsam heller wurde. Nicht weit von ihr sah sie einen großen, flachen Felsen, auf dem eine leuchtende Kristallkugel eingefasst war, die die unmittelbare Umgebung erhellte. Neben dieser Kugel saß ein Mann, die Beine zu einem Schneidersitz gekreuzt. Als er sie bemerkte, hob er den Kopf.

„Komm näher, Kind", sagte er und es war dieselbe Stimme, die sie auch hier hergelockt hatte. Angenehm, ruhig und schmeichelnd. Vorsichtig trat sie an den Fels heran. Nun erkannte sie seine ebenmäßigen Züge. Er hatte ein schmales Gesicht mit einer geraden Nase und mandelförmigen Augen. Seine hohen Wangenknochen und die schmalen Lippen wirkten edel, elfisch und irgendwie fremdartig auf sie. Sein Alter war kaum einzuschätzen, denn sein Antlitz war zeitlos, die Stimme jung und frisch doch in den Augen erkannte sie die Weisheit des Alters.

„Wer bist du?", fragte sie leise und ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen.

„Ein Gefangener", antwortete er, „und du, liebes Mädchen, bist meine Rettung."

Sie hob verwundert die Brauen, denn seine Antwort warf mehr Fragen auf, als sie beantwortete.

„Ein Gefangener kann vieles sein. Ein Opfer oder ein Täter!" sagte sie belehrend und sah ihn eindringlich an. Der Mann lachte. „Clever, junge Dame. Ich bin Täter und Opfer zugleich. Ich war nicht immer gut in meinem Leben und habe Dinge getan, die ich längst bereue. Zur Strafe sperrte man mich hier ein", er schürzte die Lippen und verengte die Augen zu schmalen Schlitzen, „die Dunkelheit hält mich gefangen. Undurchdringliche Schatten füllen die Höhle. Alpträume, Ängste, und nur Licht kann sie durchqueren. Seit vielen Jahren sitze ich nun auf diesem Felsen und kann mich nur so weit bewegen, wie das Licht der Kugel scheint. Ich bin verdammt zu existieren ohne Leben zu können. Ich habe für meine Sünden gebüßt und lange schon versprochen nun mein Leben ehrlich zu führen. Doch meine Kerkermeister sind längst fort und niemand ist hier, um über mich zu urteilen und mich zu befreien. Deswegen bist du hier, sei meine Richterin und mein Schlüssel, Kind des Lichts."

Das Mädchen kräuselte nachdenklich die Stirn. Nun gab er auch noch zu, dass er offensichtlich nicht ganz zu unrecht hier eingesperrt war. Waren seine Worte denn ehrlich? Bereute er es wirklich?

„Was passiert, wenn du die Schatten betrittst?", wollte sie wissen, denn sie hatte ja ohne Probleme durch die Finsternis gehen können, dank dem Leuchtmoos! Wieso sollte er es also nicht können?

Was das Licht berührtWhere stories live. Discover now