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Eines Abends versagten dann meine Beine kurz nachdem ich losgezogen war und ich konnte nicht weiter gehen.
Der Durst war zu überwältigend und alle Gliedmaßen taten mir weh.
Es war der Abend, an dem sich alles mit einem Einstieg in ein Haus änderte.
Ich war schon viel zu weit gegangen, gekrochen, gehinkt. Und viel zu lange war ich alleine gewesen. 

Es war ein einsames Haus, das da in der Betonwüste stand. Dahinter war kilometerlang absolut nichts, nur Dunkelheit. Also musste ich zwingend in dem Haus bleiben. Im Gegensatz zu den anderen Häusern, die ehemals Deutschland geschmückt hatten, war dieses noch einigermaßen in Ordnung. Alle Zimmer lagen in Trümmer, aber dieses eine, in das ich ging, war unversehrt. Es war groß, offensichtlich war es mal ein Wohnzimmer gewesen. Es war komplett leer, die Möbel wurden sicherlich noch auf den letzten Drücker gegen Bares verkauft. Ich fragte mich, was mit der Familie geschehen war. Wahrscheinlich waren sie alle längst tot und ihre Überreste befanden sich irgendwo in den Tiefen dieses Mülls. Der Gedanke daran erschütterte mich nicht einmal. Nein, zu viel war geschehen. 

Das Gefährliche an dieser Art von Häusern war, dass ich natürlich nicht die Einzige war, die auf die Idee kam sich dort zu verstecken. Die Gangs versteckten sich zwar nie in solchen Häusern, aber Einzelpersonen, die nur darauf warteten, dass ein Ein-Meter-Fünfzig großes Mädchen durch ihre Tür spazierte. Ich hatte die Taktik entwickelt, mich im Kaminschacht zu verstecken. Da passte ich noch gerade so rein.

Aber da war schon jemand in dem Kaminschacht und eswar kein Penner. Auch keine Leiche. Ungläubig starrte ich die Kleine an. IhreWangen waren mit Ruß beschmutzt. Genauso schwarz wie ihre Wangen waren ihreAugen und ihr lange Haare. Ich konnte nicht einschätzen, wie alt sie war, dennHunger ließ Kinder oftmals jünger wirken.

„Hallo", sagte sie mit einer kindlichen Stimme. Es klang warm und weich. „Wieheißt du?", fragte sie. Sie hatte gar keine Angst.

Ich räusperte mich. Seit Wochen hatte ich meine Stimme nicht mehr benutzt undmeinen Namen? Den hatte ich fast vergessen. „Ich?...Maja", sagte ich leise. „Maja,wie die Biene?", die Kleine klang erfreut. Ich nickte. „Und du?", flüsterte ich.
„Kimi", sagte sie. „Kimi", sprach ich ihren Namen nach. „Hör zu, Kimi. Bist duhier ganz alleine? Hast du dich all die Zeit alleine durchgeschlagen?" Ichstarrte sie ungläubig an, aber Kimi sagte nichts.
„Ich hab schon mindesten 10000 Jahre kein Mädchen mehr gesehen", schmollte siestattdessen und es klang, als würde sie eher mit sich reden, als mit mir.
„Spielst du was mit mir, Maja?" Ich nickte und drückte mich nun endgültig inden Kaminschacht. Kimi kam angekrabbelt.
„Wie wär's mit Hoppe-Reiter?", fragteich sie und sie nickte überschwänglich. Sie kletterte auf meinen Schoß. Erneutwunderte ich mich darüber, wie leichtsinnig und furchtlos dieses kleine Mädchenwar. 

Ich schloss meine Hände um den Bauch vonKimi. Ich hatte zwar kaum Kraft mehr, aber sie war so leicht, dass es mir nichtschwer fiel, sie immer und immer wieder hochzuhieven. Das gefiel Kimi. Mirbrachte dieses kleine Mädchen an diesem Abend ein kleines Stück Menschlichkeitwieder. 

Schließlich ruhte sie auf meinem Schoß. „Also Kimi", fing ich an und äußertedie Vermutung, die ich schon den ganzen Abend gehabt hatte. „Gehörst du zueiner Bande?" Bestimmt tat sie das und die würden zurück kommen, michentdecken, vergewaltigen und töten. Kimi schüttelte den Kopf. „Nö", sagte siemit ihrer hohen Stimme. „Aber mehr werde ich dir nicht erzählen, Maja.",flötete sie. Kimi griff in mein Haar und flechtete daraus kleine Zöpfe. Ichmusste grinsen. Sie war schlau, vielleicht war sie wirklich die ganze Zeit überalleine geblieben und hatte irgendwie überlebt.
„Ich bin müde", sagte Kimi nach einer Zeit und rollte sich auf mir zusammen.„Erzählst du mir eine Geschichte, Maja?" Ihr großen Augen funkelten im Dunkeln.Ich konnte nur nicken. Aber was sollte ich schon erzählen? Seit Wochen war danur der Überlebensdrang, der Tod und das Grauen in meinem Kopf. Und das schlimmstewar noch, dass das kleine Mädchen da auf mir mindestens genauso viel von derRealität mitbekommen hatte.
Es sollte nie zu meiner Gute-Nacht-Geschichte kommen.

Da steckte sich nämlich ein Kopf durch den Kaminschacht. Ich erschrak zur Tode,er auch. Und Kimi? Die blieb ganz ruhig.

Ein bärtiges Gesicht weitete mit einem Mal seine Augen. 

Der Weg, den wir gehenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt